Weblog von Christina Bergemann

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Reload: Feminism

Reload: Feminism

23.03.23
Introtext: 

Für die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist gibt es in der Kunst keine Tabus und keine feste Ordnung: Im Medium des Videos kombiniert sie Unheimliches und Vertrautes und kreiert Bilder, die sich mit Körperlichkeit, Intimität und Sexualität beschäftigen. So auch in der 1986 gedrehten Videoarbeit "I’m Not The Girl Who Misses Much", mit der sie in den 1980er-Jahren die Kunstwelt erstmals auf sich aufmerksam macht (Abb. 1 bis 3). Ihre Videoarbeit ist eine kritische Adaption eines knapp 20 Jahre zuvor erschienenen Beatles-Songs von 1968 mit dem Titel Happiness is a Warm Gun – John Lennon verarbeitet darin die Anfänge seiner Beziehung zu Yoko Ono in symbolisch aufgeladenen Bildern seiner (männlich konnotierten) Lust an Drogen und Sex. Die Liedzeile She’s Not the Girl Who Misses Much interessiert Pipilotti Rist besonders: Sie kehrt den so genannten männlichen Blick von Lennon auf Ono um und transportiert ihn in die 1980er-Jahre und die damals sehr populäre Welt der MTV-Musikvideos. Singend und tanzend rezitiert sie wiederholend wie ein Mantra: I AM NOT THE GIRL WHO MISSES MUCH.

Hinfallen und Aufstehen: Von Widerstand und Selbsterkundung

Die Kritik an sexualisierten Lesarten der Weiblichkeit, die Umkehrung von patriarchalen Machtverhältnissen und die Befreiung des weiblichen Körpers und weiblich gelesener Identität – Rist spricht in dieser, aber auch in anderen Arbeiten das an, wofür die feministische Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre angetreten ist und kommentiert und erweitert sie mit ihren eigenen künstlerischen Mitteln. Mit Vehemenz beschreibt Rist in ihrem Video auch das Gefühl, wie eine Marionette unter Druck von außen zu stehen, sich zu fragen, wer das eigene Handeln prägt und bestimmt. Sie zeigt dabei auch den Kraftakt, sich selbst immer wieder in unterschiedlichen Situationen des Lebens Mut zuzusprechen und Widerstand zu leisten. Sie thematisiert das Zweifeln und Wundern über den Ist-Zustand, das Suchen nach Erfüllung und Unabhängigkeit. All dies bündelt sich in einer zentralen Frage: Bin ich eine Person die (nicht) viel vermisst?

Mit allen Sinnen lädt uns die Künstlerin ein, mit ihr auf eine Selbstfindungsreise zu gehen, eingefahrene Lesarten zu hinterfragen und zu träumen. Pipilotti Rists Video ist der Dreh- und Angelpunkt des Ausstellungsprojekts RELOAD: FEMINISM, bei dem sich zwei Gruppen der Mannheimer Stadtgesellschaft im interdisziplinären und kollektiven Austausch mit dieser und anderen Fragen auseinandergesetzt haben, z. B. mit der Suche nach Bildern, mit denen wir heute feministische Visionen verbinden, sowie nach Themen und aktuellen Diskussionen, die sie als Feminist*innen bewegen.

Kunst, Populärkultur und intersektionaler Feminismus

Das Umwandeln destruktiver, auch zerstörerischer Impulse in hoffnungsvolle Gesten gehört zu den Leitmotiven von Pipilotti Rists Kunst. Hieran knüpfen das Mannheimer Stadtensemble (NTM) und das Queere Zentrum Mannheim e.V. an: Sie katapultieren die im Video von 1986 aufgeworfene Frage in die Jetztzeit und verbinden sie in eigenen Videoarbeiten und Performances mit zeitgenössischen Diskursen um Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Empowerment und Freiheit.

Das Video "misses much" (Abb. 7 bis 9) des Mannheimer Stadtensembles nimmt Rists Titel "I’m Not The Girl Who Misses Much" genauer unter die Lupe. Welche feministischen Körper vermissen wir? Welche übersehen wir? Welche Verbindungen verpassen wir? Als Gruppe projizieren sie Bilder von Menschen, die gegen das das patriarchale System kämpfen, auf ihre eigenen Körper. Sie zeigen Frauen, die sich in der ganzen Welt selbstbestimmt und mutig für ihre Rechte einsetzen. Darunter sind: eine Frau, die während der Proteste im Iran ihr Kopftuch verbrennt, der Auftritt von Pussy Riot in einer Moskauer Kirche, die Aktion der chilenischen Feministinnen Las Tesis oder die Künstlerin Peaches. Wir fühlen uns mit ihnen verbunden, aber wie geht Solidarität auf Entfernung?

Das Videostatement des Queeren Zentrums Mannheim mit dem Namen "Osmose - active fault" (Abb. 4 bis 6) prangert das bisher nur in acht Ländern existente Verbot von Konversionstherapien an und zeigt eine lesbisch-queere Liebesgeschichte. Im Video wird der Bibelvers aus Johannes „Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und der Apostel nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr, wenn ihr’s tut“ (Johannes 13:13) dem Dilemma der jungen Frau, zwischen Religion und Liebe entscheiden zu müssen, gegenübergestellt. Im Laufe des Kurzfilms wird dieser Konflikt in der Zusammenführung der biblischen Botschaft mit selbstbestimmten Bildern von Sinnlichkeit und Intimität überwunden. Der biochemische Prozess der Osmose steht dabei für das Auflösen der Grenzen des binären Systems und wird als Motiv und Sinnbild für Gleichberechtigung verwendet.

Beide Arbeiten stehen für einen intersektionalen Feminismus – eine global vernetzte Bewegung, die verschiedene Formen von Unterdrückungsmechanismen von patriarchalen, aber auch von rassistischen oder ableistischen Strukturen von Macht und Gewalt stärker im Blick behält und sich für viele Facetten und Formen von Liebe und Genderidentität öffnet. 

So schreibt die feministische Philosophin Emilia Roig, das Ende der Unterdrückung wird erst dann erreicht sein, wenn Gleichberechtigung für Alle gilt – unabhängig von Hautfarbe, Kulturkreis oder Herkunft, gemäß Audre Lordes Vision „Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, selbst wenn ihre Fesseln sich von meinen unterscheiden."1 Seit jeher geht es in feministischen Diskursen auch um die politische Bedeutung von Liebe und Partnerschaft. In Şeyda Kurts Worten bedarf es radikaler Zärtlichkeit und Solidarität insbesondere queerer Liebe und Identitäten gegenüber, da ihre Gleichberechtigung einen wesentlichen Teil des feministischen Widerstands und des gesellschaftlichen Wandels ausmacht.2 Die Ausstellung möchte einen Beitrag dazu leisten, einige Facetten dieser Visionen und Prozesse hin zu mehr Gleichberechtigung ausschnitthaft zu bebildern und darzustellen.

Pipilotti Rists Frage nach den Grenzen der eigenen Identität und den eigenen Privilegien – sie wirft jede*n auf sich selbst und damit auch auf eine der Grundfragen des intersektionalen Feminismus zurück.

 

Zitate der Künstlerin

Ich wollte immer Räume voll mit Licht schaffen, in denen sich Menschen finden und sich gegenseitig verstehen.3

Der Projektor ist der Flammenwerfer, der Raum ist der Strudel und du bist die Perle darin.4

 

Abbildungen

Drei Filmstills aus dem Video "I'm not the girl who misses much" von Pipilotti Rist aus dem Jahr 1986. Gezeigt werden unterschiedliche Szenen aus der Videoarbeit, in der sich die Künstlerin selbst präsentiert.
Abb. 1 bis 3: Pipilotti Rist, I‘m Not The Girl Who Misses Much (Filmstills), 1986, Videoarbeit, 7:46 Min. Kunsthalle Mannheim © VG-Bildkunst, Bonn 2023 / Pipilotti Rist
 

Drei Filmstills aus dem Video "Osmose - active fault" aus dem Jahr 2023. Gezeigt werden unterschiedliche Gesichter und Personen: Eine Porträtaufnahme mit dem Wort "Confused", eine junge Frau in einer Badewanne mit offenem Haar und geöffneten Augen und eine Menschenmenge auf einer Party mit einem Paar, das sich küsst. Produktion: QZM e.V.

Abb. 4 bis 6: "Osmose – active fault" (Filmstills), 2023 / Video, Produktion, Regie und Postproduktion: Andrea Chagas; Kamera: Alize Adamopoulos / Andrea Chagas, Animation: Bendeform; Audio: Kysha Schott; Cast: Aylin, Anna Roth, Jule Seiler, Ilka Kaufmann, Alize Adamopoulos, Flora, Raphael Wilberg, Cilly Dickmann, Katrin Hofner, Besa Demiri, Annick Mörth, Leonardo Olavarrieta, Laura Riedl, Laura Lenz, Eddi Bludau, Anna Krentz, Juliette Jiouo, Katharina Gierl, Nicki Oup; Queeres Zentrum Mannheim e.V.

Drei Filmstills aus der Videoarbeit "misses much" aus dem Jahr 2023. Die Aufnahmen sind im Hochformat gedreht und zeigen dunkle Ausschnitte mit Körperstellen von Frauen und Überblendungen und Projektionen darauf. Produktion: Stadtensemble Mannheim

Abb. 7 bis 9: "misses much" (Filmstills), 2023 / Video, Konzept: Nazli Saremi; Sound / Schnitt: Friedrich Byusa Blam; mit Berrin Seker, Lena Hauke, Tina Stottko, Claudia Pflaum-Richter, Ricarda Walter, Susanne Kugler; Mitarbeit: Henri Möhren & Michael Schreiber; Mannheimer Stadtensemble, Nationaltheater Mannheim unter der künstlerischen Leitung von Beata Anna Schmutz

 

Fußnoten

1Audre Lorde: Vom Nutzen der Wut: Wie Frauen auf Rassismus reagieren. In: Dies.: Sister Outsider. Essay, aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft, München 2021, S. 13–27, hier S. 26.

2Vgl. weiterführend Emilia Roig: Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung, Berlin 2021 sowie Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist, Hamburg 2021.

3Pipilotti Rist zit. nach Tomkins, Calvin: The Colorful Worlds Of Pipilotti Rist. The Swiss video artist wants her groundbreaking work to be like women’s handbags, with “room in them for everything.”. In: The New Yorker, 7. September 2020. URL: https://www.newyorker.com/magazine/2020/09/14/pipilotti-rists-hedonistic-expansion-of-video-art (23.03.2023)

4Rist, Pipilotti: I’m Not The Girl Who Misses Much. Pipilotti Rist. 167 cm, Ausst.kat. Kunstmuseum St. Gallen / Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz / Kunstverein Hamburg 1994, Stuttgart 1994, o.S.

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oder: Bin ich eine Person, die viel vermisst?

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Wiederentdeckte Avantgardistinnen

Wiederentdeckte Avantgardistinnen

10.01.23
Introtext: 

Die Künstlerinnen von CoBrA

"Die Frage der Gleichberechtigung von Frauen – in der Kunst wie in jedem anderen Bereich – hängt weder vom relativen Wohlwollen noch von der Missgunst einzelner Männer, nicht vom Selbstvertrauen oder der Unterwürfigkeit einzelner Frauen ab, sondern vielmehr von der Beschaffenheit unserer institutionellen Strukturen und ihrer Sicht auf die Realität, die sie den Menschen aufzwingen, die Teil von ihnen sind." - Linda Nochlin: Why Have There Been No Great Women Artists? (1971)

Die Kunst von CoBrA ist das Ergebnis eines kollektiven Austauschs, der sich bereits vor dem internationalen Zusammenschluss der Gruppe im Jahr 1948 entwickelt und im Laufe der 1940er Jahre verfestigt hat. CoBrA steht für künstlerisches Experimentieren – über nationale Grenzen und disziplinäre Grenzen hinweg –, für eine lebendige Kunst, die nahbar, frei, wild und modern ist. Die Progressivität der Bewegung, die sie zu einer einflussreichen Avantgarde für die Entwicklung diverser Kunstströmungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts macht, spiegelt sich auch in ihrem pazifistisch-demokratischen Welt- und Kunstbild. Wenngleich die gegenseitige Inspiration und der Austausch im Kollektiv und in den persönlichen Beziehungen von zentraler Bedeutung waren, so sind es besonders die Künstlerinnen von CoBrA, deren Werke und Rolle innerhalb der Avantgarde aus Sicht der feministischen Kunstgeschichte neu bewertet und gewürdigt werden müssen. Entgegen der Lesart des traditionellen, kunsthistorischen Kanons haben sie sich ebenso engagiert und innovativ wie ihre männlichen Kollegen für eine Revolution in der Kunst eingesetzt – als Malerinnen, Bildhauerinnen, Fotografinnen, Poetinnen und Netzwerkerinnen.

Ein Blick hinter die Kulissen: Doppelrollen, Kriegsschicksale, Kampf um Anerkennung

Als wichtige Netzwerkerin der Avantgardebewegung gilt Sonja Ferlov Mancoba. Ab 1936 lebt und arbeitet sie in Paris in unmittelbarer Nachbarschaft zu Alberto und Diego Giacometti. Sie pflegt vielseitige Kontakte zur Pariser Kunstszene der 1930er und -40er Jahre. Neben Asger Jorn agiert sie als zentrale Vermittlerin zwischen den Mitgliedern des dänischen Kollektivs Høst und in Paris ansässigen Künstler*innen. So lernt sie 1938 in der französischen Kunstmetropole den südafrikanischen Bildhauer Ernest Mancoba kennen, mit dem sie die Faszination für Kulturen übergreifende Motive wie bspw. die Maske teilt. Unmittelbar nach ihrer Heirat 1942 wird Ernest Mancoba im von den Nationalsozialisten besetzten Paris als südafrikanisch-britischer Staatsbürger und Nichtkombattant interniert und bleibt bis Kriegsende in Gefangenschaft. In den Jahren der Trennung des Paares, in die auch die Geburt des gemeinsamen Sohnes Wonga fällt, arbeitet sie an einer wuchtigen Bronzeskulptur ohne Titel (Abb. 1, 1940-46). Mehrere Jahre überarbeitet sie die ansteigende, biomorphe, felsartige Form, die sich an der Spitze zu einem befreiten Durchbruch wandelt in Analogie zur Lebensrealität der Künstlerin: Sie schreibt, „die Geschwindigkeit, in der sich die Ereignisse überstürzten, überstieg meine Fähigkeit, den Ausdruck im Material festzuhalten.“ 1 Die Unsicherheit der Kriegsjahre und der Schmerz über die dadurch verursachte Trennung des Paares während der deutschen Besatzungszeit wird in der Bronzeskulptur durch den langwierigen Arbeitsprozess, die Schwere des Materials und die bildhafte Zuspitzung des skulpturalen Moments offenbar. Nach Kriegsende ziehen Ferlov Mancoba und Mancoba nach Dänemark, von wo aus sie die Gründung von CoBrA entscheidend mitprägen.

Paris bleibt vor und während des Zweiten Weltkriegs das Zentrum für viele avantgardistische Künstler*innen: In den 1930er Jahren lebt und arbeitet auch die Ungarin Madeleine Kemény-Szemere als Modedesignerin in der französischen Hauptstadt. Dort lernt sie den ebenfalls aus Ungarn stammenden Modezeichner und Künstler Zoltán Kemény kennen. 1940 müssen sie als Jüd*innen vor den Nationalsozialisten fliehen – erst nach Südfrankreich, dann gelingt die Flucht in die Schweiz. Bis Kriegsende lebt Kemény-Szemere in Abgeschiedenheit, während sie in ihrer Kunst zu psychologischen Studien gelangt, die nicht selten die Einsamkeit und häusliche Isolation von weiblichen Protagonistinnen thematisiert (Abb. 2). 1947 steht sie in engem Kontakt zu Jean Dubuffet und seinem Foyer de l’art brut in Paris. Hier trifft sie auch auf den niederländischen Künstler Corneille, mit dem sie das Interesse für Kunst von Menschen mit psychischen Erkrankungen teilt und der sie und Zoltán Kemény zur ersten internationalen Gruppenausstellung von CoBrA in das Amsterdamer Stedelijk Museum einlädt. Ihre Porträts, die dem Anspruch einer expressiven, spontanen Arbeitsweise der Gruppe entsprechen, werden auch in der gleichnamigen Zeitschriftenreihe veröffentlicht. Wenngleich andere CoBrA-Mitglieder wie Corneille die entscheidende Rolle Kemény-Szemeres als aktives Mitglied der Bewegung betonen, wird sie ähnlich wie andere Künstlerinnen von CoBrA in der kunsthistorischen Forschung und der Kunstkritik der Zeit nur am Rande erwähnt. Ihre vielversprechende Karriere als Malerin gibt sie zugunsten ihres Mannes freiwillig auf – wohlwissend von den erschwerten Bedingungen als Frau eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen: „Man musste [in dieser Zeit] als Mann geboren werden; als Ehefrau konnte ich damals nicht ununterbrochen mit Zoltán im Wettbewerb stehen.“2 

Eine ebenfalls zu Unrecht vergessene Künstlerin, deren Ästhetik bereits vor 1948 die Neuausrichtung einer experimentellen Kunst im Sinne von CoBrA mitvorbereitet, ist Anneliese Hager. 1945 liegt ihr Dresdner Atelier in Schutt und Asche und damit auch ein Großteil ihrer bisherigen Fotoarbeiten. Den eigenwilligen Charakter ihrer Fotogramme der 1930er Jahre, in denen sich Mehl, Fäden, Seifenschaum oder Papierfetzen zu abstrahierten Traumwelten materialisieren, behält sie nach 1945 weiterhin bei. Das Eigenleben der Dinge, das Zufällige und Träumerische wird auch zum Hauptthema ihrer Prosadichtungen, die André Bretons Écriture automatique nahestehen. Hager ist eine der ersten, die André Bretons Schriften neben denjenigen von Charles Baudelaire, Guillaume Apollinaire oder Alfred Jarry ins Deutsche übersetzt. Ihre Fotogramme werden in der ersten Gruppenausstellung 1949 in Amsterdam zwar gezeigt, jedoch im Vergleich zu ihrem damaligen Ehemann, K.O. Götz, kaum schriftlich in Kritiken oder Texten der CoBrA-Mitglieder erwähnt, obwohl sie die Experimentierfreude der Bewegung auf eindrückliche Weise vor Augen führen. K.O. Götz reist 1949 nach Amsterdam, um persönlich bei der Eröffnung anwesend zu sein, während sich Hager in Dresden um ihre drei gemeinsamen Kinder kümmert.  

                            
 

Becoming CoBrA: Vom Gestalten einer neuen, lebendigen Kunst  

Eine genderspezifische, sexistische Lesart von Kunst, die das Weibliche als Gegenpol des Maskulinen beschreibt und dem männlichen Künstler und Kritiker die Deutungshoheit darüber überlässt, was sich in den Kanon der Kunstgeschichte einreiht und was nicht, hat auch die Sichtbarkeit der Künstlerinnen von CoBrA maßgeblich geschmälert.3 Dabei formulieren die Künstlerinnen in ihren Bildern, Gedichten und Briefen selbst, wie eine lebendige, humane Kunst in Zeiten des Krieges aussehen soll. Mit ihren künstlerischen Beiträgen verkörpern sie auf vielfältige Weise den unstillbaren Freiheitsdrang der jungen Avantgarde.

Die Rückbesinnung auf harmonische und paradiesische Zustände der Natur im Einklang mit dem Menschen spielt in den Arbeiten von Else Alfelt eine zentrale Rolle. Ihre abstrakten Landschaftsbilder drücken die Auffassung aus, dass Kunst ganz im Sinne von CoBrA spontan, expressiv und experimentell sein soll (Abb. 3). Schlichte, ausgewogene Kompositionen geometrischer Abstraktion finden sich auch in den Tapisserien der Textilkünstlerin Anna Thommesen, deren Fäden sie meist selbst aus natürlichen Materialien herstellt und färbt. Ferlov Mancobas bildhauerischer Schwerpunkt wiederrum steht Äußerungen von Asger Jorn und Christian Dotremont nahe, indem sie mit ihrer Kunst dazu beitragen möchte, eine humanere und gesündere Gesellschaft mitzugestalten. Ihre Skulpturen bringen nicht zuletzt das Austarieren der Gegensätze und das harmonische Miteinander lebender Wesen zum Ausdruck. In der technisierten und von der Erfahrung des Krieges gebeutelten Gesellschaft bedarf es eines Wandels, schreibt sie: „Der Künstler [die Künstlerin] interpretiert die ewig währende Wirklichkeit der menschlichen Natur, die einst sang, jedoch nicht länger die Stimme der gesamten Menschheit zum Ausdruck bringt, da sie durch unsere individualistische und materialistische Gesellschaft zum Schweigen gebracht wurde.“ 4

Die niederländische Bildhauerin Lotti van der Gaag betont als Gegenpart hierzu das Vorhandensein schmerzlicher Emotionen, indem sie Bilder für das Irrationale, Monströse und Unkontrollierbare der menschlichen Psyche in Analogie zur sog. Art brut von Jean Dubuffet findet: Fantastische Kreaturen, halb Mensch, halb Tier, sind Hauptmotive ihrer künstlerischen Arbeit, die ungeschönt die Abgründe des Unterbewusstseins aufzeigen (Abb. 4). Trotz mehrerer Versuche, sich der CoBrA-Gruppe anzuschließen, ist van der Gaag nie offiziell Teil der Bewegung, obwohl ihre Kontakte zu den niederländischen Mitgliedern und die Affinität ihrer Arbeiten mit den Grundgedanken von CoBrA nicht zu leugnen sind.

Viele weitere Künstlerinnen waren im Umfeld von CoBrA aktiv. Die Biografien der im Text besprochenen CoBrA-Künstlerinnen können Sie auch im digitalen Netzwerk zur Ausstellung Becoming CoBrA nachlesen oder sich in Vorträgen und Veranstaltungen informieren.

 

Abbildungen
Abb. 1: Sonja Ferlov Mancoba, Skulptur (Ohne Titel), 1940-46, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek
Abb. 2: Madeleine Kemény-Szemere, Femme et oiseau, 1946, Privatsammlung
Abb. 3: Else Alfelt, Fossen. Tjuvkil, 1947, Carl-Henning Pedersen & Else Alfelts Museum, Herning
Abb. 4: Lotti van der Gaag, Mensfiguur, 1948, Stedelijk Museum Schiedam collection
Fußnoten
1 Sonja Ferlov Mancoba zit. nach.: Troels Andersen, Sonja Ferlov Mancoba, Kopenhagen 1979, S. 35
2 Madeleine Kemény-Szemere zit. u. übers. nach Nieuwe Nuances. Vrouwelijke kunstenaars in en rondom Cobra / New Nuances. Women Artists in and around Cobra, Ausst.kat. Cobra Museum voor Moderne Kunst, Amstelveen 2019, S. 93
3 Vgl. weiterführend Karen Kurczynski: Interpersoneller Ausdruck – Die Künstlerinnen von CoBrA. In: Becoming CoBrA, hrsg. v. Christina Bergemann/Inge Herold/Johan Holten, Ausst.kat. Kunsthalle Mannheim, Berlin/München 2022, S. 164-185 sowie CoBrA – The Women Artists, Ausst.kat. Museum Jorn Silkeborg 2021
4 Karen Kurczynski: Interpersoneller Ausdruck – Die Künstlerinnen von CoBrA. In: Becoming CoBrA, hrsg. v. Christina Bergemann/Inge Herold/Johan Holten, Ausst.kat. Kunsthalle Mannheim, Berlin/München 2022, S. 164-185, hier S. 176
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Nach uns die Freiheit? – CoBrAs Rebellion zwischen Krieg und Frieden

Nach uns die Freiheit? – CoBrAs Rebellion zwischen Krieg und Frieden

21.12.22
Introtext: 

Der Inhalt der Kunst aber ist der Mensch – zusammen mit seinen Wünschen. Dies alles ist sowohl schön als auch unschön. (Asger Jorn)  (1)


Die jungen Künstler*innen von CoBrA verbindet bereits vor ihrem internationalen Zusammenschluss 1948 ein engagiertes Ziel: Konfrontiert mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Entmenschlichung durch die nationalsozialistische Propaganda wollen sie eine Revolution in der Kunst und im Leben vorantreiben. Über Ländergrenzen und disziplinäre Grenzen hinweg entstehen starke Gegenbilder zu Krieg, Nationalismus und Gewalt. Sie leugnen nicht die Schrecken und die Abgründe der menschlichen Existenz, sondern machen sie zum Thema ihrer Kunst, behalten dabei aber stets den Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit im Blick.

Die Kriegszeit und die Avantgarde: Vom Widerstand in Kunst und Gesellschaft

Ich weiß, dass unter den Pfeilen von Sirenen das Echo der Träume verendet. Siehst Du die kleinen Öllampen, die in wahnsinnigen Schlünden zaghaft ihre Bahnen ziehen? Sie schrauben ihr gelbes Auge verworren und scheu in die Finsternis und lächeln – lächeln über dem Grab der Zukunft.
Anneliese Hager, Krieg (Auszug), 1947


Der leere Raum wird Erde, wird Berg, Bach und Baum, Tier und Haus: Synthese aus dir und dem anderen: Ersehntes Doppelwesen, das immer wieder zerreißt, sich immer wieder vereint, von Geburt zu Wiedergeburt, von Stufe zu Stufe – in steter Verwandlung.
Anneliese Hager, Geburt und Wiedergeburt (Auszug), 1947 (2)


Anneliese Hager, die 1945 in Dresden lebt und arbeitet, experimentiert nicht nur im Medium des Fotogramms, sondern schreibt auch surrealistische Gedichte, die die Abgründe der Zeit aufzeigen, in denen sie entstanden sind. Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und der Ausweglosigkeit als Folgen des Krieges, der Europa in den 1940er-Jahren fest im Griff hat, steht auch im Zentrum eines Gemäldes von Henry Heerup. Der dänische Künstler, der seit 1940 gemeinsam mit dem Høst-Kollektiv eine den deutschen Besatzern entgegengesetzte Kunstvision verwirklicht, setzt den Kreislauf von Werden und Vergehen in dem Gemälde Krigsmoderen / Kriegsmutter (1943, Öl auf Sperrholz, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen) in Szene: Kinder purzeln aus der Mutterfigur im Zentrum des Bildes in die Welt – wachsen heran, machen ihre ersten partnerschaftlichen und intimen Beziehungen – doch schon hier wird der Kreislauf des Lebens unterbrochen durch den Jagdbomber, der den blauen Himmel durchkreuzt und Bomben auf das Paar unter sich abwirft. Ihnen gegenüber werden in Form zerstörter Häuser und eines Friedhofs die Spuren der Verwüstung sichtbar. Die Kriegsmutter mit Tränen im Gesicht hält den Zyklus von Werden und Vergehen am Laufen. In dem Gedicht Geburt und Wiedergeburt setzt Anneliese Hager dem allgegenwärtigen Krieg, der bei Heerup den natürlichen Kreislauf des Lebens unterbrochen hat, etwas Hoffnungsvolles entgegen: das Bild eines Doppelwesens, das der Zerstörung mit der Neuerfindung seines Selbst begegnet und sich immer wieder mit all seinen Facetten und Anknüpfungspunkten in der Natur verortet. Mit der Rückbesinnung auf die Natur als Rückzugsort, aber auch mit all dem, wofür das Tierische steht – dem Instinkthaften, dem Unzähmbaren, dem Emotionalen – können sich die Künstler*innen von CoBrA identifizieren.

In vielfältiger Form tauchen deshalb auch schon vor der Gründung der Gruppe Mischwesen aus Mensch und Tier in den Werken der Künstler*innen auf. Sie sind nicht nur absolute Gegenbilder zu Krieg, Gewalt und Nationalismus, sondern auch Gegenpole zu einer vom Intellekt geleiteten Kunst. Besonders der Vogel wird dabei als ein Symbol für (künstlerische) Freiheit und Frieden verwendet.

Bei Carl-Henning Pedersen erscheint er mit feurig-rotem Gefieder (Røde fugle, 1940, Wasserfarben und Pastell auf Papier, Carl-Henning Pedersen & Else Alfelts Museum, Herning) und bei Ejler Bille als Spadserende Form / Spazierende Form (1933-36, Bronze, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk), in die subtil aber dennoch eindeutig eine politische Botschaft eingelassen ist: Das Swastikamotiv der Nationalsozialisten zerschmilzt zu einem sich frei und unkonventionell bewegenden Vogel.
1938, als das Ausmaß der Gewalt noch unvorstellbar ist, malt die dänische Künstlerin Sonja Ferlov Mancoba eine wegweisende Komposition (Öl auf Leinwand, Kunstmuseum Brandts, Odense): Trotz oder besser zum Trotz des sich ankündigenden Zweiten Weltkriegs zeigt sie ein tanzendes Wesen, halb Mensch, halb Tier, halb Maske – es sieht mit seinen großen Augen im wahrsten Sinne des Wortes Rot (Orange) und erinnert dabei an ein Skelett, das einen Totentanz aufführt. In Paris hatte Ferlov im selben Jahr den südafrikanischen Künstler Ernest Mancoba kennengelernt. Die beiden werden ein Paar und heiraten 1942. Gemeinsam suchen sie nach universellen Zeichen in der Verbindung der Kunst europäischer und außereuropäischer, insbesondere afrikanischer, Kulturen. Zwei Symbole schweben im Einklang miteinander über dem tanzenden Wesen: Der umrandete Stern weckt Assoziationen zur südafrikanischen Ubuntu-Philosophie, die ein friedvolles, respektvolles Zusammenleben und den individuellen Beitrag eines*r Jeden in Bezug zu seiner*ihrer gesellschaftlichen Verantwortung betont. Auf einer Ebene schwebend, steht das Symbol des Kreuzes für den christlichen Glauben und das Konzept der Nächstenliebe. Ganz im Zeichen der späteren Vision von CoBrA zeigt das Bild daher den Anspruch, eine interkulturelle Kunst und damit eine modernisierte Vorstellung der Volkskunst zu schaffen, indem es den Blick auf das Verbindende zwischen Menschen lenkt – auf das grüne Herz, das das Wesen und seinen Tanz antreibt.
                                
 

Jugend, Rebellion, Kollektiv: Eine freie Kunst in einer unfreien Gesellschaft?
Hierin liegt die heute noch augenscheinliche Modernität der künstlerischen Rebellion des CoBrA-Kollektivs begründet. Viele Künstler*innen engagieren sich während der deutschen Besatzungszeit ihrer Heimatländer auch politisch und aus dem Untergrund heraus gegen die Kulturpropaganda der Nationalsozialisten. Den Krieg und seine Folgen, aber auch kolonialistische Strukturen der Unterdrückung führen sie auf das Scheitern der sogenannten westlichen Hochkultur zurück. Auch ihre künstlerischen Vorbilder wie Paul Gauguin, Paul Klee oder Paul Cézanne geraten in die Kritik der Avantgarde. Es schärft sich das Bewusstsein dafür, dass es nicht darauf ankommt, sich einer modernistischen Kunstströmung anzuschließen, sich für den Weg der Abstraktion oder der Figuration zu entscheiden, sondern authentische Formen der Darstellung zu finden, die sich aus der Fantasie vieler unterschiedlicher Perspektiven speist. Künstlerinnen wie Else Alfelt oder Sonja Ferlov Mancoba finden treffende Worte für die pazifistisch-demokratische Botschaft ihrer Kunst:  
Wir erobern nichts – wir selbst sind ein Teil – im Raum der Planeten, Sonnen und Monde. (Else Alfelt)

Nur miteinander können wir leben und atmen, und niemand ist alleine kreativ. (Sonja Ferlov Mancoba)

Wir erobern nichts, schreibt Else Alfelt, wir müssen nichts einnehmen, nichts kriegerisch erkämpfen, um Teil eines Netzwerks, eines Kollektivs zu sein oder unseren künstlerischen Beitrag zu leisten. In Aussagen wie diesen findet sich auch die Betonung kollektiven Arbeitens und damit einhergehend die Ablehnung der Vorstellung eines genialen (weißen, vorwiegend männlichen) Künstlers, die in den modernistischen Kunstströmungen des Expressionismus und der Abstraktion vorherrschte.
CoBrA steht für den Bruch mit alten Vorbildern und Konventionen künstlerischer Schönheit. Die Jugend, das Rebellische, die Sehnsucht nach Freiheit ist in der Kunst und den Texten, die ab Ende der 1930er- bis in die 1940er-Jahre hinein entstehen, regelrecht spürbar und wird umso deutlicher, wenn der niederländische Künstler Constant 1949 in seinem Text C’est notre désir qui fait la révolution / Unser Verlangen macht die Revolution schreibt:

Für uns, die Menschen des 20. Jahrhunderts, ist jede Rede über das Verlangen eine Rede über das Unbekannte, da wir nichts anderes von der Macht unserer Wünsche wissen, als dass sie auf ein unermessliches Verlangen nach Freiheit hinauslaufen. […] Das Leben selbst verlangt das Schöpferische, und die Schönheit selbst ist das Leben! Wenn also die Gesellschaft sich gegen uns und unsere Werke erklärt, indem sie uns vorwirft, sozusagen ‚unverständlich‘ zu sein, dann antworten wir:
[…] Dass wir auch nicht ‚verstanden‘, sondern befreit werden wollen, und dass wir aus denselben Gründen zum Experimentieren verurteilt sind […]. Die Menschheit – und wir mit ihr – hält Ausschau nach ihrem Verlangen, wir werden es bekannt machen […]. (4)


Im selben Jahr entsteht das Gemälde mit dem Titel À nous, la liberté / Uns gehört die Freiheit (Öl auf Leinwand, Tate Gallery of London). Hier schweben magische Geschöpfe, Tierwesen und menschliche Figuren vor einem nächtlichen Himmel. „Ein Bild ist keine Konstruktion aus Farben und Linien, sondern ein Tier, eine Nacht, ein Schrei, ein Mensch – oder all das zusammen.“ (5) – schreibt Constant. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Kunst von CoBrA – zwischen dem Unbeschreiblichen, den Abgründen menschengemachter Alpträume und dem Hoffnungsvollem, dem Neubeginn, der Lebensfreude. Nach der Auflösung der Gruppe 1951 ändert Constant den Titel des Bildes zu Après nous, la liberté / Nach uns die Freiheit, weil er Zweifel daran hat, ob eine freie Kunst in einer immer noch unfreien Gesellschaft existieren kann.

                             

(1) Asger Jorn: Sozialistische Heringe, realistische Ölfarben und Volkskunst. In: Cobra Nr. 5, Hannover, November 1950. Zit. nach: ders. und Hanna Mittelstädt, Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft, Hamburg 1987, S. 35-37, hier S. 36.
  Die Gedichte Krieg und Geburt und Wiedergeburt stammen aus der Prosadichtung Die rote Uhr. 
(2) Anneliese Hager: Die Rote Uhr und andere Dichtungen, hrsg. v. Rita Bischof und Elisabeth Lenk, Zürich 1991, S. 35 und S. 37.
(3) Else Alfelt zitiert und übersetzt nach Eva Pohl: A Luminous Dream of Connectedness. In: Hanne Lundgren Nielsen: Else Alfelt. The Aestehtics of Emptiness, Herning 2010, S. 39 / Sonja Ferlov Mancoba in einem Brief an Troels Andersen, 15. November 1979. Übersetzt nach Dorthe Aagesen und Mikkel Bogh: Sonja Ferlov Mancoba: Figure, Voices, and Space. In: Sonja Ferlov Mancoba. Mask and Face, hrsg. v. Cecilie Høgsbro Østergaard, Kopenhagen 2019, hier S. 119.
(4) Zit. nach der deutschen Übersetzung ihres 1949 in Le Petit Cobra (Nr. 1, Brüssel) veröffentlichten Textes in Pierre Gallissaires (Hg.), Cobra. Nach uns die Freiheit!, Hamburg 1995, hier S. 13.
(5) Constant, „Manifest“, in: Reflex, 1, 1948, zit. nach Cobra. 1948–51, hrsg. von Uwe M. Schneede, Ausst.-Kat. Hamburger Kunstverein, Hamburg, Berlin 1982, hier S. 16.

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KÖRPER – KUNST – PROTEST. Feministische Perspektiven in der Kunst

KÖRPER – KUNST – PROTEST. Feministische Perspektiven in der Kunst

08.03.22
Introtext: 

„Poesie ist keine Luxusangelegenheit. Denn die Beschaffenheit des Lichts, mit dem wir unsere Lebensweisen ausleuchten, hat einen direkten Einfluss auf die Weise, wie wir leben und auf die Veränderungen, die wir durch unsere Leben zu hoffen bringen. […] Poesie ist die Art, mit der wir dem Unbenannten Namen geben, sodass es gedacht werden kann. Denn unsere Empfindungen sind Zufluchtsorte und Humus für die radikalsten und gewagtesten unserer Ideen.“ (Audre Lorde)

Feministische Positionen lassen sich in den vielfältigsten Ausdrucksformen finden – in Poesie, Film, Musik und Kunst. Sie sind der Ausgangs- und Endpunkt kämpferischer Reden für die Gleichstellung von Frauen bzw. FLINTA und Männern, entlarven Zusammenhänge von Diskriminierung, Rassismus und Sexismus im (kulturellen) Leben, beleuchten in Filmen emanzipierte, auch queere Lebensformen, werden zu empowernden Visionen und Visualisierungen von Freiheit. Liest man die Zeilen der feministischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde (1934–1992) zur Verbindung von Poesie und Leben, so wird schnell klar, dass Poesie in diesem Kontext auch Kunst, Musik, Tanz oder jede andere künstlerische Ausdrucksform sein kann.

Feministische Bewegungen in Aktivismus und Kunst eint zuallererst die Kritik an patriarchalen Strukturen und Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft. Sie hinterfragen und untersuchen, wem, wann und warum in der Geschichte, aber auch in der Gegenwart, Bedeutung und Raum zugesprochen oder abgesprochen wird. Der Forderung nach einer Neubewertung des sogenannten Kanons der Kulturgeschichte folgt dabei auch die Befreiung von dem männlich geprägten Blick, denn, wie die Philosophin Simone de Beauvoir (1908–1986) schreibt:   

„Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer [heute würden wir ergänzen: das Produkt von überwiegend weißen Cis-Männern]: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit der absoluten Wahrheit gleichsetzen.“

Die Reaktion der feministischen Kunstgeschichte auf diesen Zustand hat die Kunsthistorikerin Linda Nochlin (1931–2017) in ihrem zentralen Aufsatz von 1971 mit dem durchaus ironischen Titel Why Have There Been No Great Women Artists (Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?) formuliert: Feministische Kunstgeschichte ist da, um – so Nochlin – Ärger zu machen und die bisherigen Grundsätze der Disziplin in Frage zu stellen. Denn natürlich hat es seit jeher bedeutende Künstlerinnen gegeben, allerdings haben sie, aus dem Grund, den Beauvoir beschreibt, meist keinen Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden oder ihr Schaffen wurde stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit untergeordnet. Häufig wurden Frauen in der Rolle der Muse, des Modells oder der Ehefrau zwar verehrt, aber nicht als sich künstlerisch verwirklichende Persönlichkeiten akzeptiert. Dementsprechend wurden sie auch von der Forschung über Jahrhunderte nur am Rande des kunsthistorischen Kanons behandelt oder schlichtweg nicht erwähnt. Die Debatte um die Präsenz von Künstlerinnen in Museen und Akademien, die Linda Nochlin mit ihrem Aufsatz angestoßen hat, bleibt daher nach wie vor bestehen. Bis heute kritisiert die Aktivistinnengruppe der Guerilla Girls mit Plakaten und Protestaktionen, dass der weibliche Körper in Museen und anderen Kultureinrichtungen zwar omnipräsent ist, aber der prozentuale Anteil von Künstlerinnen in Sammlungen und Ausstellungen nach wie vor zu wünschen übriglässt.

Die Thematisierung des Körpers, vor allem des weiblichen Körpers als Politikum, spielt daher in vielen Arbeiten von Künstlerinnen, durch viele Epochen und Kunstbewegungen hinweg, eine zentrale Rolle. Eine vergessene Pionierin feministischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Hanna Nagel (1907–1975), der die Kunsthalle Mannheim eine erste Retrospektive widmet (08.04.–03.07.2022, kuratiert von Dr. Inge Herold). Stets gesellschaftskritisch und mit einem direkten Blick auf problematische Lebenslagen von Frauen beschäftigt sich Nagel mit den Geschlechterrollen von Mann und Frau und thematisiert dabei auch den bis heute brisanten Konflikt zwischen Berufstätigkeit und Mutterschaft.

Spätestens in der feministischen und explizit kanonkritischen Kunst der 1960er-Jahre wird der Körper selbst zur BODY ART (Körperkunst). Künstlerinnen wie Marina Abramović, Valie Export, Ana Mendieta oder Yoko Ono verwenden ihren eigenen Körper als künstlerisches Mittel: Dabei nutzen sie die Möglichkeiten der Performance und der Neuen Medien (wie der Fotografie oder des Films) um bewusst mit männlich konnotierten Mitteln, wie z. B. dem Pinsel, zu brechen und das etablierte System der Geschichtsschreibung zu unterlaufen, das Kunstschaffende in männliche Genies auf der einen und Künstlerinnen oder Musen auf der anderen Seite aufteilt. Sinnbildlich unter Beschuss steht dieses gesellschaftliche System in den frühen Arbeiten Niki de Saint Phalles (1930–2002), wie in Tir-séance Galerie J (Schuss – Aktion Galerie J) von 1961, das in der neuen Sammlungspräsentation im Billingbau der Kunsthalle Mannheim gezeigt wird. In Performances beschießt die Künstlerin ihre eigenen Bilder, die aus Gipsreliefs und Farbbehältern bestehen, die durch die Schüsse ihre Farbe freigeben und überlaufen. Sie sind Ausdruck von de Saint Phalles Kritik an der Allgegenwart von Krieg und Gewalt (eine allgemeingültige Kritik bis heute (!) – in ihrer Zeit der Vietnamkrieg und der Kalte Krieg) und dem Patriarchat (=Gesellschaftssystem, in dem Männer eine bevorzugte Stellung in allen Bereichen des Lebens genießen). Gleichzeitig sind die Performances und die dabei entstandenen Bilder Ausdruck einer feministischen Haltung, indem sie die Deutungshoheit über den eigenen Körper zurückerobern, wie die Künstlerin selbst in einem Interview sagte:

„Indem ich auf mich selbst schoss, zielte ich auf die Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten. Indem ich das Visier auf die Wut in mir richtete, zielte ich auf die Gewalt der Zeit.“

Frauen bzw. FLINTA (= Frauen, Lesben, Intersexuelle Menschen, Nicht-binäre Personen, Transgender/Transfrauen) erleben auch in unserer heutigen Welt Gewalt, Diskriminierung und Benachteiligung. Künstler*innen aus allen kulturellen Bereichen haben seit jeher gesellschaftliche Missstände und den Missbrauch von Macht kritisiert und Handlungsoptionen aufgezeigt – Audre Lorde schreibt zu recht: „Es sind nicht die Unterschiede, die uns hemmen, es ist das Schweigen.“


Die Zitate von Audre Lorde stammen aus AnouchK Ibacka Valiente (Hg.): Vertrauen, Kraft und Widerstand. Kurze Texte und Reden von Audre Lorde, aus dem Englischen übersetzt von Pasquale Virginie Rotter, Hiddensee 2019, S. 72-73, S. 44.

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau (Neuübersetzung), Reinbek/H 1992, S. 194.

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Ensors Maskeraden am Puls der Zeit

Ensors Maskeraden am Puls der Zeit

09.08.21
Introtext: 

Maskeraden spielen in den Bildern des belgischen Künstlers James Ensor (1860–1949) eine wichtige Rolle. Im elterlichen Souvenirladen fand Ensor bereits früh Zugang zu Masken unterschiedlicher Kulturkreise und Gefallen an den Kostüm- und Maskenbällen, die zu Karnevalszeiten in der belgischen Küstenstadt Ostende stattfanden. So wird die Maske nicht nur zu einem seiner  Hauptmotive, sondern auch zu seinem Markenzeichen, das ihm den Titel als Maler der Masken einbrachte:

Die Maske bedeutet mir: Frische des Tons, überspitzter Ausdruck, prächtiger Dekor, große, unvermutete Geste, ungehemmte Bewegung, erlesene Turbulenz.  (zit. nach Paul Haeserts, James Ensor, Stuttgart 1957, S. 163)

Doch der Blick hinter die farbenprächtigen, skurrilen Masken, die in den Bildwelten Ensors ihr Eigenleben führen, entlarvt und karikiert auch die Maskeraden moderner Gesellschaften, die Abgründe der menschlichen Existenz und deren oftmalige Scheinheiligkeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie heute können wir in den (Masken)Bildern Ensors modernistische Ideen und Konzepte entdecken, die auch über 100 Jahre später keineswegs an Aktualität eingebüßt haben.  

ENSOR ALS SPRACHROHR DER MODERNEN WELT? – VON IDENTITÄTSSUCHE UND GESELLSCHAFTSKRITIK

Zu Beginn seiner Laufbahn noch vom belgischen Publikum und der Kunstwelt kritisiert, fühlte sich Ensor missverstanden und selbst von Freunden im Stich gelassen. In vielen seiner Selbstbildnisse stilisierte er sich daher zum verkannten Künstler, der den Angriffen der verhassten Kritiker*innen mit Selbstbewusstsein und einer gewissen Selbstironie trotzt. Wie die individualisierten Masken in seinen bildnerischen, bühnenartigen Inszenierungen schlüpfte Ensor in seinen Selbstbildnissen in unterschiedlichste Rollen und gab dadurch auch die vielfältigen Facetten seines Selbst preis – angetrieben von der harschen Kritik an seiner modernistischen Kunstauffassung und der beharrlichen Suche nach der eigenen Identität hinter der konventionellen Fassade. Die charakteristische Verwendung der Maske diente Ensor dabei auch als Mittel der Provokation des ihn ablehnenden Publikums und der Bloßstellung seiner Kritiker*innen, die er als Teil einer heuchlerischen und trügerischen Welt entlarven wollte. – Die Maske stellt aber auch den Versuch dar, die eigene Identität künstlerisch zu greifen, zu erkunden und gegen den gesellschaftlichen Druck von außen zu behaupten. In Anbetracht der von Leistungsorientiertheit und Selbstoptimierung bestimmten Welt der Moderne liegen Parallelen zu Ensors skurrilen Bildwelten besonders nahe. Ensors Maskeraden und teils surrealistisch anmutende Verwandlungen brechen mit konventionellen Gesellschaftsidealen, legen die Verletzbarkeit und Abgründe der Menschheit frei und geben Anlass zur Selbstbefragung.

Neben der Suche nach der eigenen Identität in der modernen Welt, beschäftigte sich der Künstler auch mit Themen von gesellschaftspolitischer Relevanz: Er setzte sich beispielsweise für den Erhalt der Dünenlandschaft seines Lebensmittelpunkts Ostende ein und kritisierte die schlechte Haltung von Tieren. In Anbetracht der Krisen seiner Zeit beklagte er die Janusköpfigkeit der Moderne: Oh belle modernité, que de crimes on commet en ton nom! / Oh! Schöne Moderne, dass in deinem Namen Verbrechen begangen werden! (zit. nach Herwig Todts, James Ensor, Occasional Modernist. Ensor’s Artistic and Social Ideas and the Interpretation of his Art. Turnhout 2018, S. 186)

Ebenso dokumentierte und kommentierte Ensor, wie in Der Einzug Christi in Brüssel an Mardi Gras 1889, gesellschaftspolitische Ereignisse und Entwicklungen in seiner Kunst. In der monumentalen Maskenszene, die Ensor in einem Gemälde von 1888/89 (Getty Museum, Los Angeles) und in Radierungen (1898) zum Motiv machte, wird die Leidensgeschichte Jesu auf Ensors eigene Zeit übertragen und die Geschehnisse von Palmsonntag werden zu einer Art Demonstration grotesker Gestalten und Masken umgewandelt. Die Banner und Flaggen der Parade greifen Parolen der Demonstrationen der Belgischen Arbeiterpartei auf, die Ende der 1880er Jahre in Brüssel stattfanden. Neben dem revolutionären Schlachtruf Vive la Sociale / Lang lebe die sozialistische Republik finden sich auch Sprüche wie Fanfares doctrinaires toujours réussis / Doktrinäre Fanfaren stets erfolgreich oder Les charcutiers de Jérusalem / Die Fleischer von Jerusalem. Satirisch und auf groteske Weise bündelte Ensor hier verschiedenste politische, religiöse und künstlerisch-ästhetische Diskurse des gesellschaftlichen Umbruchs um die Jahrhundertwende, die sich mit sozialer und politischer Unterdrückung auseinandersetzten. Fasziniert von der Kraft der Menschenmenge stellt Ensor folglich auch die politische Repräsentation einer Gesellschaft durch Einzelne in Frage und weist uns dabei auf die Untrennbarkeit von Individuum und kollektiver Zugehörigkeit hin.

 

IRONISCHE KONFRONTATION MIT DER SCHWERE – DIE MASKE UND DER TOD IM ENSOR’SCHEN KOSMOS

Ein wesentlicher Aspekt in Ensors Bildwelt, der uns in Zeiten der Pandemie besonders vor Augen geführt wird, darf zum Schluss nicht unerwähnt bleiben. Selbst vor den schweren Themen der menschlichen Existenz verschont uns der Künstler nicht: Ensors Mahnung an die Vergänglichkeit und die Fragilität des Seins findet in der Verbindung von Masken und Skeletten einen makabren Höhepunkt.

In Mein Porträt im Jahre 1960 stellte sich der damals 27-jährige Ensor selbstironisch als liegendes Skelett dar. Die Maske hat er – so könnte man hier meinen – abgenommen, der Tod ist auf groteske und schamlose Weise demaskiert.

Auf geradezu sarkastische Art wiederholt sich das Ensor’sche Spiel von Maskierung und Demaskierung wenn wir als Betrachter*innen in Zeiten der Pandemie mit unseren medizinischen Masken vor seine Bilder treten und uns der eigenen Verwundbarkeit bewusst werden.

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Sammeln und Bewahren: Museumsarbeit zwischen Erhalten und Gestalten. Ein Tagungsbericht

Sammeln und Bewahren: Museumsarbeit zwischen Erhalten und Gestalten. Ein Tagungsbericht

23.07.21
Introtext: 

Museen werden zunehmend zu Austragungsorten von gesellschaftspolitischen Diskursen zu Gleichberechtigung, Inklusion und Ökologie. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich sprach zuletzt auch von einer Tempelrevolution, die sich derzeit in der Museumswelt abzeichnet (ART 07/2021). Diesen Umbruch reflektierend und begleitend, fand am 15. Juli die zweite Landesvolontariatstagung des Jahres 2021 in Mannheim und Ludwigshafen statt. Ausgerichtet wurde die aufgrund der Corona-Pandemie online durchgeführte Tagung von den Volontär*innen der Mannheimer und Ludwigshafener Museen (TECHNOSEUM, Reiss-Engelhorn-Museen, Kunsthalle Mannheim, Wilhelm-Hack-Museum, Ernst-Bloch-Zentrum) in Kooperation mit dem Arbeitskreis wissenschaftlicher Volontärinnen und Volontäre des Museumsverbandes Baden-Württemberg e.V.

DIVERS – NACHHALTIG – DIGITAL: Ziele und Herausforderungen der zukünftigen Museumsarbeit

Die Literaturwissenschaftlerin bell hooks schreibt: „Um wirklich visionär zu sein, müssen wir unsere Vorstellungskraft in unserer konkreten Realität verwurzeln und uns gleichzeitig Möglichkeiten jenseits dieser Realität vorstellen.” (übersetzt nach bell hooks, Feminism is for everybody, London 2000, S. 110) Vor der Umsetzung von Visionen steht auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlungstätigkeit: Nach welchen Kriterien wurden bisher Objekte in musealen Sammlungen bewahrt und was soll für zukünftige Generationen erhalten werden? Wie kann Diversität im weitesten Sinne in bestehenden Sammlungen sichtbar(er) gemacht und erweitert werden?

Die Vielfalt von Kulturen, Religionen, Gender und Migrationsbewegungen bestimmt seit jeher die Menschheitsgeschichte. Sie prägt nicht nur das soziale bzw. kulturelle Gedächtnis, sondern auch museale Sammlungen aller Fachbereiche – von Technik- und Naturkundemuseen, über Kunst- und Geschichtsmuseen bis hin zu Gedenkstätten. Sowohl Fragen zu Teilhabe und Multiperspektivität als auch die Tragweite unseres Handelns im Sinne einer sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit standen daher im Mittelpunkt der Vorträge und interaktiven, praxisorientierten Sessions der Tagung.

In vielen Beiträgen wurde sowohl über die an den Museen betriebene Provenienzforschung als auch über die damit verbundenen Restitutionsansprüche (d.h. die Rückgabe von unrecht entzogenen oder geraubten Kulturgütern) diskutiert, die in diesem Kontext eine entscheidende Rolle spielen. Neben der Aufarbeitung von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern wird sich die Provenienzforschung zukünftig intensiv mit Objekten beschäftigen müssen, die mit kolonialgeschichtlichen Menschheitsverbrechen zusammenhängen und dadurch eine kritische Befragung musealer Sammlungsbestände notwendig machen. Die Thematisierung fragwürdiger und von Diskriminierung zeugender Provenienzen von Kulturgütern ist dabei ebenso wie die Zusammenarbeit mit Communities und Herkunftsgesellschaften von zentraler Bedeutung für die Sammlungsarbeit europäischer Museen, insbesondere für ethnografische Museen. Sowohl internationale Partner*innen als auch lokale Stadtgesellschaften sollen dabei nicht nur bei sammlungspolitischen Entscheidungen berücksichtigt, sondern auch bei der Gestaltung von Sammlungspräsentationen stärker involviert werden, indem sie ihre Geschichte(n) selbst erzählen.   

In den Diskussionen und Beiträgen wurde ebenso deutlich, wie die digitale Dokumentation und Archivierung von Sammlungsbeständen (und Ausstellungen) zu den zentralen Bestandteilen heutiger Museumsarbeit gehören und dass eine digitale Vernetzung zwischen den Museen trotz zahlreicher Kooperationen ein bislang noch unerreichtes Ziel darstellt. Online-Datenbanken und -Plattformen ermöglichen es den Museen einerseits, Ergebnisse der Provenienzforschung für die Forschung transparent zu machen, sie können aber ebenso eine breite Öffentlichkeit ansprechen. Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung Möglichkeiten, den Austausch zwischen Museen, aber auch zwischen Museen und Herkunftsgesellschaften zu fördern und sich beispielsweise über Datenbanken zu vernetzen, um neben der Bündelung von Wissen die Recherchearbeit von Forscher*innen und Bürger*innen über Ländergrenzen hinweg zu erleichtern. Doch was geschieht beispielsweise mit kleineren Museen und Einrichtungen, denen personelle oder finanzielle Möglichkeiten fehlen, um ihre Sammlungen zu digitalisieren? Die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Kulturinstitutionen, die Sammlungen verwalten, hängt zunehmend auch von der Bereitstellung digitaler Ressourcen ab. Neben finanziellen und administrativen Hürden gilt es hierbei auch sprachliche Formen zu finden, die sowohl auf den bisher entwickelten (analogen und digitalen) Such- und Findmechanismen aufbauen und gleichzeitig einer politisch korrekten Sprache gerecht werden. Die Konservierung und Bereitstellung der dadurch entstehenden, großen Datenmengen stellt die Museen aber auch vor Herausforderungen, insbesondere was die angestrebte Klimaneutralität betrifft.

Zuletzt bleibt auch die Frage danach, was in Anbetracht der Einhaltung klimapolitischer Ziele überhaupt für zukünftige Generationen erhalten werden soll und wie Kulturgüter (haptisch und digital) nachhaltig konserviert werden können, bis hin zur Erhaltung von Kunstwerken, die ausschließlich in digitaler Form existieren und für die als Neue Medien neue Techniken der Konservierung benötigt werden. Die Digitalisierung erfordert aus konservatorischer und restauratorischer Sicht nicht nur die Notwendigkeit innovativer, nachhaltiger Methoden, sondern sie bietet auch die Chancen einzigartiger, detailreicher Perspektiven auf die Objekte einer Sammlung.

Die Tagung ist Teil einer Reihe von vier Weiterbildungen, die im Zwei-Jahres-Rhythmus für Volontär*innen an staatlichen und nichtstaatlichen Museen, Gedenkstätten und in der Denkmalpflege in Baden-Württemberg stattfinden. Die Tagungsreihe nimmt die zentralen Aufgabenfelder der Museumsarbeit (Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, Vermitteln) und des Museumsmanagements in den Blick. Sie bietet zudem die Möglichkeit zur Vernetzung der Volontär*innen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland.

Das Programmheft steht hier zum Download zur Verfügung.

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Zwischen Split Decision(s) und Lichtblicken: James Turrells Lichtinstallation in der Mannheimer Kunsthalle. Ein weihnachtlicher Impuls im Jahr 2020?

Zwischen Split Decision(s) und Lichtblicken: James Turrells Lichtinstallation in der Mannheimer Kunsthalle. Ein weihnachtlicher Impuls im Jahr 2020?

18.12.20
Introtext: 

Als Lichtpassage mit wechselnden Farbsequenzen markiert die eigens für die Mannheimer Kunsthalle konzipierte Installation "Split Decision" des amerikanischen Künstlers James Turrell (*1943) den Übergang zwischen der zeitgenössischen Museumsarchitektur und dem Jugendstilbau. Der vieldeutige Titel (Geteilte Entscheidung) verweist einerseits auf die Gegenüberstellung zweier Licht- und Farbquellen und gibt andererseits den Anstoß für eine philosophische Lesart, die wesentlich mehr mit dem Lichtfest Weihnachten –insbesondere in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie – zu tun hat als im ersten Moment vielleicht gedacht.

SPLIT DECISION: FARBE – LICHT – RAUM

In seinen Lichtinstallationen und -architekturen nimmt Turrell die spezifischen Gegebenheiten eines Ortes zum Anlass, Licht- und Farbsequenzen zu einem immersiven Raumerlebnis zu verdichten. Das Licht wird zur Materie. Es dehnt sich im Raum aus und lässt die Grenzen unserer gewohnten Wahrnehmung verschwimmen. Turrell entlässt Licht und Farbe in den Raum, sodass sie nicht mehr – wie beispielsweise in der abstrakten Malerei – an einen Bildträger (z. B. eine Leinwand) gebunden sind. Das Licht ist hierbei keine bloße Helligkeitsquelle mehr, sondern wird zur Hauptakteurin seiner Arbeit. Dass sich unser Auge an keinen bekannten Objekten oder Strukturen orientieren kann und durch das abstrahierte Licht auf sich selbst zurückgeworfen wird, verbindet Turrell auch mit Künstler*innen des französischen Impressionismus wie Paul Cézanne. Dieser erkannte in der Farbe einen Ort, an dem „das Bewusstsein und das Universum zusammentreffen.“ (zitiert und übersetzt nach: Gasquet, Joachim: Cézanne, Paris 1926) In den Arbeiten Turrells ist es das Licht, das einen solchen Reflexionsraum eröffnet: „Auf eine gewisse Art und Weise verbindet das Licht die spirituelle Welt mit der ephemeren, physischen Welt.“ (James Turrell; zitiert nach: Homepage des Guggenheim Museum 2019/Museum Frieder Burda 2018)

DIE SPIRITUELLE BEDEUTUNG DES LICHTS

Turrells atmosphärischer Lichtraum stellt unsere eigene, persönliche Wahrnehmung und Erfahrung mit dem Licht in den Mittelpunkt. Für jede*n kann das Licht eine andere subjektive, spirituelle Bedeutung haben. In vielen Kulturen und Religionen der Welt ist das Licht in all seinen Formen Bestandteil von Riten und Festen:

Am Weihefest Chanukka, das Jüdinnen und Juden im November oder Dezember feiern, wird im familiären Kreis acht Tage lang jeweils ein Licht am Chanukka-Leuchter angezündet. Damit soll an zentrale Ereignisse in der Geschichte des jüdischen Volkes erinnert werden, u. a. an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem (164 v. Chr.). In dem Lichtwunder des acht Tage lang brennenden Leuchters manifestieren sich im jüdischen Glauben die Anwesenheit Gottes und die Aufgabe der Gläubigen, Hoffnung und Licht in eine düster gewordene Welt zu tragen.

Die Laternenlichter an St. Martin oder die Kerzenlichter des Adventskranzes begleiten Christ*innen in der (Vor-)Weihnachtszeit. Sie bereiten den Heiligen Abend vor, an dem die Geburt von Jesus Christus gefeiert wird, der als Hoffnungsträger Licht in die Welt brachte. Papier- und Strohsterne schmücken Weihnachtsbäume und erinnern an den Stern, der den Hirten und den Heiligen Drei Königen den Weg zum Geburtsort Christi, einem Stall in Bethlehem, zeigte.

Viele Muslim*innen gedenken dem Geburtstag des Propheten Mohammad mit dem Lichterfest Maulid an-Nabī in der 12. Nacht des dritten Monats im islamischen Mondkalender. Mit Feuerwerken, Fackelzügen und mit Kerzen geschmückten Moscheen gedenken sie dem Tag, an dem die in Dunkelheit gehüllte Welt durch die Geburt des Propheten in Licht getaucht wurde.

Mit dem mehrtägigen Lichterfest Diwali gedenken Hinduist*innen ebenso der positiven Strahlkraft des Lichts, die sinnbildlich für eine göttliche Macht steht, die die Menschen von weltlichen Leiden befreit.

LICHT(BLICKE)

Lichtfeste, welcher Religion oder welchem Kulturkreis sie auch verbunden sein mögen, sind Zeichen der Hoffnung und stellen Lichtblicke in finsteren Zeiten dar. Im Jahr 2020 – in Zeiten der Corona-Pandemie, die gesellschaftliche, wirtschaftliche, klima-, aber auch kulturpolitische Missstände in der Welt weiter verschärft und insbesondere Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, belastet und fordert – sind Reflexionsräume, wie sie Turrell in "Split Decision" für jede*n Einzelne*n schaffen möchte, von großer aktueller Relevanz.

So stehen wir alle dieses Jahr vor einer Art „Split Decision“, nämlich der nicht einfachen, eigenverantwortlichen Entscheidung, wie und in welchem Kreis religiöse und kulturelle Feste oder Zusammenkünfte, darunter auch das Weihnachtsfest 2020, begangen werden können. So wird die Zeit gegen Ende des Jahres von vielen Fragen begleitet, die wir uns selbst stellen (müssen):

Welche Auswirkungen haben meine Entscheidungen? Welches Gewicht hat mein Handeln in Zeiten der Krise? Und was sind trotz der aktuellen Situation Lichtblicke im kommenden Jahr?

Turrells Rauminstallationen sind hierfür geeignete (Rückzugs-)Orte, weil sie dem Sehen, aber auch dem Träumen in der Auseinandersetzung mit dem Licht gewidmet sind.

So hoffen wir, das Team der Kunsthalle, dass unsere Besucher*innen Turrells (be)sinnliche Lichtinstallation bald wieder vor Ort erleben können, denn #Ohne Kunst und Kultur wird‘s still.

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