Ensors Maskeraden am Puls der Zeit

KUMA BLOG

09.08.21
Christina Bergemann

Ensors Maskeraden am Puls der Zeit

Maskeraden spielen in den Bildern des belgischen Künstlers James Ensor (1860–1949) eine wichtige Rolle. Im elterlichen Souvenirladen fand Ensor bereits früh Zugang zu Masken unterschiedlicher Kulturkreise und Gefallen an den Kostüm- und Maskenbällen, die zu Karnevalszeiten in der belgischen Küstenstadt Ostende stattfanden. So wird die Maske nicht nur zu einem seiner  Hauptmotive, sondern auch zu seinem Markenzeichen, das ihm den Titel als Maler der Masken einbrachte:

Die Maske bedeutet mir: Frische des Tons, überspitzter Ausdruck, prächtiger Dekor, große, unvermutete Geste, ungehemmte Bewegung, erlesene Turbulenz.  (zit. nach Paul Haeserts, James Ensor, Stuttgart 1957, S. 163)

Doch der Blick hinter die farbenprächtigen, skurrilen Masken, die in den Bildwelten Ensors ihr Eigenleben führen, entlarvt und karikiert auch die Maskeraden moderner Gesellschaften, die Abgründe der menschlichen Existenz und deren oftmalige Scheinheiligkeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie heute können wir in den (Masken)Bildern Ensors modernistische Ideen und Konzepte entdecken, die auch über 100 Jahre später keineswegs an Aktualität eingebüßt haben.  

ENSOR ALS SPRACHROHR DER MODERNEN WELT? – VON IDENTITÄTSSUCHE UND GESELLSCHAFTSKRITIK

Zu Beginn seiner Laufbahn noch vom belgischen Publikum und der Kunstwelt kritisiert, fühlte sich Ensor missverstanden und selbst von Freunden im Stich gelassen. In vielen seiner Selbstbildnisse stilisierte er sich daher zum verkannten Künstler, der den Angriffen der verhassten Kritiker*innen mit Selbstbewusstsein und einer gewissen Selbstironie trotzt. Wie die individualisierten Masken in seinen bildnerischen, bühnenartigen Inszenierungen schlüpfte Ensor in seinen Selbstbildnissen in unterschiedlichste Rollen und gab dadurch auch die vielfältigen Facetten seines Selbst preis – angetrieben von der harschen Kritik an seiner modernistischen Kunstauffassung und der beharrlichen Suche nach der eigenen Identität hinter der konventionellen Fassade. Die charakteristische Verwendung der Maske diente Ensor dabei auch als Mittel der Provokation des ihn ablehnenden Publikums und der Bloßstellung seiner Kritiker*innen, die er als Teil einer heuchlerischen und trügerischen Welt entlarven wollte. – Die Maske stellt aber auch den Versuch dar, die eigene Identität künstlerisch zu greifen, zu erkunden und gegen den gesellschaftlichen Druck von außen zu behaupten. In Anbetracht der von Leistungsorientiertheit und Selbstoptimierung bestimmten Welt der Moderne liegen Parallelen zu Ensors skurrilen Bildwelten besonders nahe. Ensors Maskeraden und teils surrealistisch anmutende Verwandlungen brechen mit konventionellen Gesellschaftsidealen, legen die Verletzbarkeit und Abgründe der Menschheit frei und geben Anlass zur Selbstbefragung.

Neben der Suche nach der eigenen Identität in der modernen Welt, beschäftigte sich der Künstler auch mit Themen von gesellschaftspolitischer Relevanz: Er setzte sich beispielsweise für den Erhalt der Dünenlandschaft seines Lebensmittelpunkts Ostende ein und kritisierte die schlechte Haltung von Tieren. In Anbetracht der Krisen seiner Zeit beklagte er die Janusköpfigkeit der Moderne: Oh belle modernité, que de crimes on commet en ton nom! / Oh! Schöne Moderne, dass in deinem Namen Verbrechen begangen werden! (zit. nach Herwig Todts, James Ensor, Occasional Modernist. Ensor’s Artistic and Social Ideas and the Interpretation of his Art. Turnhout 2018, S. 186)

Ebenso dokumentierte und kommentierte Ensor, wie in Der Einzug Christi in Brüssel an Mardi Gras 1889, gesellschaftspolitische Ereignisse und Entwicklungen in seiner Kunst. In der monumentalen Maskenszene, die Ensor in einem Gemälde von 1888/89 (Getty Museum, Los Angeles) und in Radierungen (1898) zum Motiv machte, wird die Leidensgeschichte Jesu auf Ensors eigene Zeit übertragen und die Geschehnisse von Palmsonntag werden zu einer Art Demonstration grotesker Gestalten und Masken umgewandelt. Die Banner und Flaggen der Parade greifen Parolen der Demonstrationen der Belgischen Arbeiterpartei auf, die Ende der 1880er Jahre in Brüssel stattfanden. Neben dem revolutionären Schlachtruf Vive la Sociale / Lang lebe die sozialistische Republik finden sich auch Sprüche wie Fanfares doctrinaires toujours réussis / Doktrinäre Fanfaren stets erfolgreich oder Les charcutiers de Jérusalem / Die Fleischer von Jerusalem. Satirisch und auf groteske Weise bündelte Ensor hier verschiedenste politische, religiöse und künstlerisch-ästhetische Diskurse des gesellschaftlichen Umbruchs um die Jahrhundertwende, die sich mit sozialer und politischer Unterdrückung auseinandersetzten. Fasziniert von der Kraft der Menschenmenge stellt Ensor folglich auch die politische Repräsentation einer Gesellschaft durch Einzelne in Frage und weist uns dabei auf die Untrennbarkeit von Individuum und kollektiver Zugehörigkeit hin.

 

IRONISCHE KONFRONTATION MIT DER SCHWERE – DIE MASKE UND DER TOD IM ENSOR’SCHEN KOSMOS

Ein wesentlicher Aspekt in Ensors Bildwelt, der uns in Zeiten der Pandemie besonders vor Augen geführt wird, darf zum Schluss nicht unerwähnt bleiben. Selbst vor den schweren Themen der menschlichen Existenz verschont uns der Künstler nicht: Ensors Mahnung an die Vergänglichkeit und die Fragilität des Seins findet in der Verbindung von Masken und Skeletten einen makabren Höhepunkt.

In Mein Porträt im Jahre 1960 stellte sich der damals 27-jährige Ensor selbstironisch als liegendes Skelett dar. Die Maske hat er – so könnte man hier meinen – abgenommen, der Tod ist auf groteske und schamlose Weise demaskiert.

Auf geradezu sarkastische Art wiederholt sich das Ensor’sche Spiel von Maskierung und Demaskierung wenn wir als Betrachter*innen in Zeiten der Pandemie mit unseren medizinischen Masken vor seine Bilder treten und uns der eigenen Verwundbarkeit bewusst werden.

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