Dieser Text wurde verfasst als Einführung zu einer Vorführung des Films „Unheil“ von John Bock im Rahmen der Filmreihe Film & Kunst im Cinema Quadrat, Mannheim, am 15.06.2023. Hier liegt der Text nun in leicht überarbeiteter Fassung vor.
Über den Vergleich mit anderen Arbeiten von Bock und mit Filmen von Christoph Schlingensief wird „Unheil“ in das Kunst- und Filmschaffen der letzten Jahrzehnte eingeordnet. Über diesen Bezug wird der Bogen auf die soziopolitische Situation Deutschlands im Jahr 2018 geschlagen: Bock reflektiert in seinem Film den allgemeinen Rechtsruck in Europa ebenso wie die spezifische Situation in Deutschland, die vor dem Hintergrund des NSU-Prozesses, des Scheiterns des NPD-Verbotsverfahrens und des Aufstiegs der AfD als Unheil bringend erscheint.
John Bock wurde 1965 in Gribbohm in Schleswig-Holstein geboren. Ab 1997 studierte er Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Er lebt und arbeitet in Berlin und hat eine Professur für Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe inne.
Bock war 2002 Teilnehmer an der documenta in Kassel, darüber hinaus war er im Laufe der Jahre an mehreren Biennalen in Venedig beteiligt. Bocks Arbeiten lassen sich nicht klar in ein System von Kunstgattungen einteilen. Er vermischt oft Elemente von Malerei, Skulptur, Zeichnung, Performance, Installation, Musik, Schauspiel und anderem zu Arbeiten, die alle Sinne ansprechen sollen. Sie verschaffen den Betrachtenden ein Erlebnis. So verwandelte er etwa im Jahr 2013 die ganze erste Etage des Hamburger Kunstvereins in ein gigantisches Labyrinth, in dem die Besucher*innen, desto länger sie sich darin aufhielten, in zunehmendem Maße ein Gefühl von Raum und Zeit verlieren sollten und sich immer tiefer in surreale, teils albtraumhafte Szenarien hineinbegaben, aus denen es keinen Ausweg mehr zu geben schien. Suggestiv musste am Einlass ein Zettel ausgefüllt werden, der den Kunstverein von allen Klagen auf Schadenersatz befreite, sollte man nicht körperlich gesund aus der Ausstellung herauskommen. Daneben vereinte die Arbeit Aspekte mystischer Sinnsuche und rummelplatzhafter Vergnügungsveranstaltungen, kurz, Kunst kann bei Bock alles sein, aber vor allem alles gleichzeitig. Sie ist entgrenzt und von traditionellen Ansprüchen an etwa das Schöne, Gute, Wahre oder die Abbildung der Realität befreit.
Die Realität wird vielmehr als Fragment in den Raum der Kunst selbst hineingeholt, so etwa in einer Arbeit von Bock, die sich in der Sammlungspräsentation der Kunsthalle Mannheim befindet, der Installation „LiquiditätsAuraAromaPortfolio“. Diese Installation ist ein Raum im Raum, den Bock in die Kunsthalle hineingebaut hat. Er ahmt den Innenraum eines verlassenen Postamtes im Osten Berlins nach. In den Raum ist ein doppelter Boden eingezogen. In ihn sind Löcher hineingesägt, die Einblicke in einen dunklen Keller geben. Man ahnt mehr als dass man sieht, der Keller ist gefüllt mit Heu, dessen starker Duft den ganzen Raum erfüllt. Daneben erahnt man im Keller einige mysteriöse Kunstgegenstände und ausrangierte Alltagsgegenstände, deren Sinn unklar erscheint.
Auch oberhalb des Kellers, auf einer Ebene mit den Besucher*innen, finden sich die Gegenstände der Außenwelt in neue, unheimliche Konstellationen gebracht. Langenscheidts Taschenwörterbuch Englisch, eine leere Ibuprofen-Verpackung, eine Sackkarre, eine Aktentasche, ein Kassettenrekorder, mehrere Stummel von Filterzigaretten und eine Lesebrille mit einem zerbrochenen Glas: Die Gegenstände wirken wie Zitate, aber ohne, dass sie sich auf etwas außerhalb des Zitats beziehen würden. Neben diesen Gegenständen befinden sich gleichwertig Zeichnungen und Videos, die Relikte vergangener Performances von Bock sind. Sie eröffnen den Besucher*innen ein Fenster in die Vergangenheit des gebauten Ortes. Dieser Doppelung der Ebenen von Vergangenheit und Gegenwart, von Kunst und Nicht-Kunst, gesellt sich eine Doppelung der Projektionsebenen, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Beim Betreten des Raumes fängt wie von Geisterhand ein Super-8-Projektor zu laufen an, und die Projektion eines Videos startet. Das Video wird allerdings von einem digitalen Beamer unterhalb des Super-8-Projektors abgespielt. Der Filmprojektor selbst dreht nur, lärmend und Hitze abstrahlend, eine unbelichtete Rolle Film, die Lampe ist ausgeschaltet. Er projiziert nur sich selbst.
Schon früh in seiner künstlerischen Laufbahn nahm das Bewegtbild in Bocks Werk eine wichtige Rolle ein. Videos liefen bereits in den 1990er-Jahren als Teil seiner Multimedia-Installationen, aber zunehmend emanzipierten sie sich von der Einbindung in Raumgestaltungen. Es ist bezeichnend, dass Bock selbst seine Video-Arbeiten als „movies“, also als Filme bezeichnet, selbst wenn sie dem allgemeinen Verständnis nach eher dem Format Video nahestehen, etwa seine Arbeit „Porzellan-IsoSchizo Küchentat des neurodermitischen Brockenfalls im Kaffeestrudel und das alles ganz teuer“, die im Jahr 2002 auf der documenta in Kassel gezeigt wurde. Sie dauert unter 2 Minuten, ist für die Präsentation in einer Ausstellung vorgesehen, und zeigt den Künstler selbst bei der Arbeit in der Küche, im Kampf mit den Tücken des Materials, aus dem er eine Mahlzeit zubereiten möchte. Die Arbeit ist ein Schlüsselwerk im Schaffen Bocks. Zuvor hatte er das Medium des Bewegtbildes ausschließlich im Zusammenhang von Performances und Installationen genutzt. Bei der „Küchentat“ handelt es sich hingegen um ein eigenständiges Kunstwerk, das auch ohne den Kontext existiert. Ein Schritt in Richtung „Spielfilm“ war getan, auch wenn es vielleicht noch ein wenig an dem fehlte, was man gemeinhin als Handlung bezeichnen würde. Diese Tendenz haben auch die nachfolgenden Film-Arbeiten, die nun in rascher Folge entstanden. Anlässlich der Ausstellung „John Bock. Filme“, die 2007 in der Frankfurter SCHIRN-Kunsthalle gezeigt wurde, resümierte Michael Hierholzer die Produktion der fünf Jahre seit Entstehung der „Küchentat“ mit den Worten: „Film kann unter Umständen Kunst sein. Ein untrügliches Anzeichen dafür ist, wenn der Film nichts erzählt. Oder nicht wirklich etwas erzählt, also nur so tut, als ob. John Bock schreitet auf dem Weg des Als-ob zügig voran. Der Mann, von dem man womöglich alsbald einen abendfüllenden Nicht-Spielfilm erwarten darf, lässt in seinen neueren Arbeiten die Genres Revue passieren, simuliert in schon auf einstündige Spieldauer aufgeblasenen Produktionen die Lichtspielkunst und nähert sich mit immer opulenteren Ausstattungen dem großen Leinwandepos an. Nur freilich, um es zu fragmentieren, dekonstruieren, entmythologisieren […].“
Ein genau solcher Nicht-Spielfilm, wie ihn Hierholzer vorhergesehen hat, ist „Unheil“ aus dem Jahr 2018. Allzu viel Handlung im engeren Sinne des Wortes sollte man hier nicht erwarten, stattdessen wird den Betrachter*innen ein Höllenritt durch die Abgründe deutscher Geschichte geboten. Als Kulisse dient das Freilichtmuseum Ukranenland in Torgelow in Mecklenburg-Vorpommern. Hierbei handelt es sich um den Nachbau eines mittelalterlichen Dorfes, eine Rekonstruktion einer Handels- und Handwerkersiedlung, wie es sie in der Region im 9. und 10. Jahrhundert gab. Archäologischen Befunden folgend wurden die Häuser in Originalgröße wiederaufgebaut. Im Museum können, wie es auf der Website heißt „geschichtsinteressierte Besucher eine Zeitreise in das Mittelalter erleben. […] Die Ukranen der Neuzeit zeigen täglich in historischer Kleidung ihre Fähigkeiten. Man kann gerne dem Schmied, Schnitzer oder der Töpferin über die Schulter schauen und sich auch selbst gerne in jenen alten Techniken versuchen.“ Eine subversive Lesart solcher Verflechtungen von Live Action Role Playing, Mittelaltermarkt, experimenteller Archäologie und Geschichtsmuseum bietet Bocks Film: In der Kulisse des Ukranenlandes inszenierte Bock Szenen von verstörenden Ritualen, psychischen Ausnahmenzuständen und visionärer Erhitzung. In der Mitte all dessen steht eine Seher-Figur, gespielt von Lars Eidinger, der sich Schlamm spuckend den Weg durch die deutsche Geschichte bahnt. Kinderopfer vor unheimlichen Naturszenen, surreale Maschinen ohne Funktion, Krankheit und Schmutz: Was von der Anlage her auch ein prima Trash-Horrorfilm sein könnte, erweist sich, ganz in der Tradition etwa der Filmarbeiten von Christoph Schlingensief, als ein Spiel mit den Erwartungen der Betrachtenden: Der Blick auf das Dahinter bleibt stets durchsichtig, Bock bricht mit der Immersion eines als real aufgefassten Geschichtsbildes, wie es das Freilichtmuseum bieten möchte. Wir sehen eine Performance von Lars Eidinger in den Räumen eines Museums, die mit Installationen des Künstlers John Bock ausgestattet sind. Der Film stellt wesentliche Fragen: Wie zuverlässig ist unsere Wahrnehmung? Wie konstruiert ist Geschichte? Und nicht zuletzt: Was vom Schlamm der deutschen Geschichte lebt noch in den Köpfen und Konstruktionen heutiger Menschen? Wie prägt sie sich in den Architekturen aus, die uns umgeben? Wieviel deutsche Geschichte steckt in der Technik, die wir tagtäglich einsetzen? Wie ideologisch geprägt sind die Stätten der Wissens-Vermittlung oder wie kontaminiert durch den allgemeinen Gang der Geschichte? Kurz, „Unheil“ ist nicht nur ein Film über das Mittelalter oder über die Vermittlung mittelalterlicher Kultur in den Medien und die damit verbundenen Klischees, er ist auch ein Film über die deutsche Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert. Eine Tradition rechtsradikalen Gedankenguts in Deutschland seit der NS-Zeit wird ebenso angesprochen wie der deutliche Rechtsruck in Europa, der zum Wiederhervorquellen des braunen Schlamms der Geschichte führt. – Auch insofern steht Bocks Filmarbeit in der Nähe zu Arbeiten von Christoph Schlingensief, der in den 1980er- und 1990er Jahren mit Filmen wie „Mutters Maske“ oder „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ ein ganz ähnliches Themenfeld beackerte. Die FAZ schrieb seinerzeit über „100 Jahre Adolf Hitler“ beispielsweise: „Hier wird endlich klar: Die Zeit der pädagogischen Hitlerbeschwörung ist vorbei. Hitler wohnt gleich nebenan und zeigt die große Geste und den Abgrund und das Lachen, wenn alles gut gegangen ist. Das größte Geheimnis der Menschheit, hier wird es zum Ereignis: Wir selbst!" Die Arbeit bezog sich auf die damalige Gegenwart, sie war lustig, und sie beschäftigte sich mit einem Kapitel der Geschichte, das vielen bereits als abgeschlossen erschien. Schlingensief bewies in seinen Arbeiten stets einen großen Humor. Sie waren mit Distanz zu ihrem Thema gedreht. Er wollte mit ihnen den Anfängen wehren, vor dem schleichenden Vergessen der vergangenen Gräuel warnen, einer Schlussstrichdebatte wehrhaft entgegenstehen. Zudem wollte er mit ihnen vor einer düsteren Zukunft warnen. Auf der offiziellen Website von Schlingensief lesen wir etwa: „Man begreift 100 JAHR ADOLF HITLER weniger durch die Frage, wo der Film hin will, was er ‚erreichen‘ will, sondern eher durch die Frage, wovor sie weglaufen, vor wem sie fliehen - und dabei eine Spur der Verwüstung hinterlassen.“ Es ist genau diese Zukunftsperspektive, mit der Bock als Gegenwart des Jahres 2018 umgeht. 2018 war das Jahr, in dem der NSU-Prozess zu Ende ging. Auch war nur ein Jahr zuvor das NPD Verbotsverfahren gescheitert. An diesen Ereignissen wurde schmerzhaft deutlich, dass der Rechtsradikalismus in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin fröhliche Urständ feiert. Die direkt vorhergehenden Jahre hatten zudem den Aufstieg der AfD gesehen, die sich zunehmend zu einem populären Sammelbecken aller rechter Tendenzen in Deutschland entwickelt hatte. Dies ist im Zusammenhang eines allgemeinen Rechtsrucks in vielen Ländern Europas zu sehen. Vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens rechter und faschistischer Ideologien in Deutschland und Europa ist Bocks Film entstanden. Die Darsteller*innen stolpern, den mit archäologischen Funden durchtränkten Boden der deutschen Geschichte erbrechend, in die Zukunft. Das von Michael Hierholzer konstatierte „Als Ob“ bezieht sich also nicht nur auf das Erzählen als Strategie, sondern auch auf das Erzählte: „als ob“ diese Dinge in der Vergangenheit passieren würden, „als ob“ sie Fiktion wären, „als ob“ sie nur eine Schauermär wären und „als ob“ man nach dem Film wieder zurückträte in eine heilere Welt. Kathartisches Lachen, das die Zuschauer*innen bei Schlingensiefs Filmen überfallen mag, ist in Bocks Projektion wohl eher nicht vorgesehen. Sie ist übelkeitserregend, grotesk und bitterernst.