Das soll Liebe sein!? Hanna Nagels Blick auf das Verhältnis der Geschlechter

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Das soll Liebe sein!? Hanna Nagels Blick auf das Verhältnis der Geschlechter

Freitag, 17. Juni 2022
Dr. Inge Herold

Hanna Nagel (1907-1975) beschäftigt sich schon sehr früh mit dem Verhältnis der Geschlechter, mit der Beziehung zwischen Mann und Frau in weit gespanntem Blick von der Liebesbeziehung bis zur Auflösung von traditionellen genderspezifischen Rollenmustern. Sie tut dies in den Jahren zwischen 1928 und 1932 intensiv wie kaum eine andere Künstlerin ihrer Zeit und kann so als feministische Pionierin gelten. Für die Rollenspiele nimmt sie jeweils sich selbst und ihren Partner Hans Fischer als Modell, was jedoch häufig zu Missinterpretationen führt: In der Reduktion der Werkinterpretationen auf rein Autobiografisches wird verkannt, worum es ihr tatsächlich geht: Erlebtes und Beobachtetes, aber zudem auch Imaginiertes exemplarisch zu visualisieren und zu Allgemeingültigem zu verdichten, denn die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Familie ist Keimzelle sozialen Zusammenlebens und daher von gesellschaftspolitischer Dimension. Hanna Nagels Erkundungen von Paarkonstellationen reichen von Liebe, Sehnsucht nach Harmonie, Gleichberechtigung über Unterdrückung, Demütigung, Abhängigkeit bis hin zu gegenseitiger Gewalt und Todes- und Verlustängsten. Wirtschaftliche Not wird ebenso verhandelt wie die ungleiche Belastung im Hinblick auf Vater- und Mutterschaft sowie die Konkurrenz in der künstlerischen Arbeit. Immer wieder wechselt Hanna Nagel die Perspektive, verkehrt die Rollen, beide Seiten werden zu Opfer oder Täter. Doch als Grundtenor der Kritik erweist sich die Diskrepanz zwischen männlicher Anmaßung einerseits und männlichem Versagen andererseits. Überblickt man die Werke, lässt sich beobachten, dass Hanna Nagel ein Motivrepertoire aus wiederkehrenden Elementen entwickelt, etwa bei der männlichen Kleidung die Uniform als Zeichen von militärischer Macht, das Priestergewand als Symbol kirchlicher Autorität, die Krone als Ausweis politischer Potenz. Das Kind dient als Objekt der Zuneigung und Verkörperung der Zukunft, Geldstücke fungieren als Symbol für Almosen, Reichtum und dessen Gegenteil, Masken als Motiv für Verstellung und Täuschung. Das Rollenspiel bietet ihrem Alter Ego Möglichkeiten der Verkleidung und des Identitätswechsels: Mal erscheint sie in sehr weiblichen Rüschengewändern der Vergangenheit, dann wieder in Arbeitskittel oder knielangem Kleid im Stil der modernen Frau der Zwanzigerjahre. Ihr Haar ist mal burschikos kurz, dann wieder schulterlang. Hans Fischer ist leicht an der Brille und der Glatze zu erkennen, die sein Aussehen brutalisiert. Viele Blätter sind Ausdruck der wachsenden Passivität eines Künstlers bei zunehmender Aktivität der Künstlerin. Dies zeigt sich auch in dem Blatt mit „Mühevolle Ehe“, hier wird die Frage der Arbeitsverteilung aufs Korn genommen, in einer der wenigen Szenen, die sich im öffentlichen Raum abspielen: Während die Frau mühsam einen mit Kunst und Kindern schwer beladenen Karren mit der Aufschrift „Fischer“ zieht, trägt der Mann eher zur Behinderung des Vorankommens bei. Er läutet zwar um Aufmerksamkeit heischend mit der Glocke, doch hat er den Arm lässig auf den Wagen gelehnt. Die düsteren Zukunftsperspektiven eines Künstlerpaars, bei dem die Frau die pragmatische, anpackende Rolle spielt, während der Mann als Schmarotzer oder als vergeistigter Intellektueller erscheint, werden auf eine überpersönliche Ebene gehoben und als unlösbarer Konflikt. Die Frau bleibt auf sich allein gestellt in der Sorge um die Familie und ihre Zukunft. Komplexe Fragen im Zusammenhang mit mütterlicher Unfreiheit und Ungleichgewicht in der familiären Aufgabenverteilung werden angesprochen: die Benachteiligung und Deklassierung als Frau auf dem Kunstmarkt, die Tatsache, dass der Frau die Sorge um die Kinder angelastet wird, sowie die aus dieser Mehrfachbelastung resultierende mangelnde Bewegungsfreiheit und Chance, sich erfolgreich zu entwickeln. Zudem kommt auch die nicht zuletzt für beide Geschlechter relevante Problematik zur Sprache, als Künstler*in in einer ohnehin schwierigen wirtschaftlichen Gesamtlage sein Dasein fristen zu können. Noch heute sind viele der von Hanna Nagel angesprochenen kritisierten Fragen und Probleme ungelöst, das macht ihr Werk einerseits zeitlos, aber auch aktuell.

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