Ein Text von Kathy Alliou (übersetzt von Inge Hanneforth)
Repräsentationen von Müttern sind in ein Gewirr von Zuordnungen eingeschlossen, die den Rahmen der Familieneinheit bilden. Ein Weg zur Überwindung dieser Antagonismen mag darin bestehen, die Rolle der Mutter und ihre Repräsentation von lediglich biologischen oder traditionellen Vorstellungen der Familie zu entkoppeln.
Nan Goldins bahnbrechendes fotografisches Werk steht sinnbildlich für eine Neuerfindung der Familienbande. Sie bringt das innovative Konzept der Wahlfamilien ans Licht, die nicht auf biologischen Bindungen basieren und diese daher sowohl einschließen oder auch nicht einschließen können. Es handelt sich um Mehrpersonen- und dauerhafte Beziehungen zwischen Einzelnen, mit Paaren und anderen Gruppen, die zusammen eine heterogene, vielfältige Klassifizierung bilden. Was diese Wahlfamilien jedoch ausmacht, ist der Bruch von Tabus, die in der biologischen Familie eine zentrale Rolle spielen. Sexualität, Drogen, Gewalt und Krankheiten, in der klassischen Familie schamhaft verborgen und verdrängt, sind persönliche Erfahrungen der Künstlerin und Gegenstand ihrer Arbeit. Gewalt, Missbrauch und Abweichungen hätten in den Familien bleiben sollen, da Geheimnisse den sozialen Frieden garantierten, hieß es. Nan Goldin hat dazu beigetragen, Gruppen und Lebensweisen sichtbar zu machen, die von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden, indem sie verschiedene Formen von heterosexuellen oder queeren Affinitäten in einer Form der Undifferenziertheit vermischt und so sexuelle Verletzlichkeiten und Minderheiten in die Reihe gelebter Erfahrungen einbezieht.
Die Frage, die das Voguing an die Figur der Mutter stellt, folgt eng der Frage nach der Spannung oder Krise der heterosexuellen Codes der weißen Elite und der Möglichkeit ihrer Erneuerung durch die parodistische Haltung. Die Bewegung des Voguing, zwischen Tanz und Parade angesiedelt, entstand aus der Logik der Abspaltung der schwarzen Community von den ballrooms (Tanzsäle) der Weißen, von denen sie mehr oder weniger explizit ausgeschlossen war.
Deren Codes wurden in den späten 1970er-Jahren in New York von den schwarzen und lateinamerikanischen Queer-Gemeinschaften nachgespielt. Der Gemeinschaftsgeist des Voguing zeigt sich in geschlechts- und rassenspezifischen Herausforderungen, aber auch in der Bejahung von Ersatzfamilien. Das Voguing übernahm wichtige Funktionen der Mutterschaft gemäß einer Dynamik der Aneignung, Verarbeitung und – vielleicht – Neuformulierung der klassischen symbolischen Rollen. Diese Autoritäts-, Bildungs- und Schutzfigur ist ein Bezugspunkt für ihre children (Kinder) in ihrem house (Haus), dessen Bild und Stil sie verkörpert. In Jennie Livingstons Film „Paris Is Burning“ (1991), der diese Community einem breiten Publikum bekannt machte, wird auf subtile Weise zwischen einem gegenkulturellen Verhältnis zu Körpern, Geschlechtern und sozialen Rollen sowie einem Raum für Spektakel und Unterhaltung unterschieden. Die Inszenierung von Geschlechtern durch Travestie ist als solche nicht subversiv, wenn sie nur zu einer Verschärfung normativer Muster führt. Und wie steht es mit der Übernahme der Mutterrolle durch die queeren Personen des Voguing? Genügt es, das naturalistische oder essentialistische Schema der Mutter zu hinterfragen oder zu reformieren, oder führt es umgekehrt dazu, dass es neu idealisiert wird?
Im 19. Jahrhundert schrieb der französische Historiker Jules Michelet in seinem Werk „La Sorcière“, (1862, deutsche Übersetzung „Die Hexe“, 1863) eine große Erzählung über Hexen im Laufe der Zeit. Michelet erwähnt oder bezieht sich nicht auf Mutterschaft oder Kinder, obwohl zum Beispiel das Haus als wichtiger Ort für die Hexe dargestellt wird, ebenso der Wald, in dem sie mit allen Wesen und Geistern in Dialog treten konnte und so ihre Isolation und Einsamkeit überlistete. Im Sinne der gegenseitigen Hilfe und des weiblichen Wissens erwähnt er nur die Rolle der Hexe als Hebamme. In dieser Eigenschaft wandten sich Frauen an Hexen, um Abtreibungen vorzunehmen, weshalb Hexen dann immer mit Kindsmord in Verbindung gebracht wurden. Dafür wurden sie gefürchtet und gnadenlos gejagt. Durch die Hexen erlangten die Frauen ihre Autonomie als Wesen, unabhängig von der Fortpflanzungsfunktion ihrer Gebärmutter; zudem erwarben sie die Fähigkeit, keine Schwangerschaften einzugehen.
Heute ist die Hexe wieder zum metaphorischen Ausdruck der Macht der Frau geworden, oft in der Verweigerung einer auferlegten Mutterschaft. In dem Buch von Mona Chollet „Sorcières - La puissance invaincue des femmes“, (2018, deutsche Übersetzung „Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen“, 2020) ist die kinderlose Frau zu einer modernen Figur der Hexe geworden.
Die Künstlerin Lise Haller Baggesen setzte das von ihr erfundene Konzept des Mothernism in einem Buch mit dem gleichnamigen Titel (2014) und einer Installation um, die erstmals 2013 in Chicago und seit 2015 auch mehrmals in Europa gezeigt wurde. Ihr selbstfiktionalisierender Essay stützt sich auf verschiedene Arten der Ansprache und des Schreibens, ein Manifest, Briefwechsel, Songtexte usw., um eine Erzählung zu konstruieren, die Anleihen aus der Pop- und Medienkultur, der Kunst und ihrer persönlichen Erfahrung nimmt. Die Künstlerin lädt ein, fügt zusammen, formuliert neu und entfaltet zusätzliche und vielfältige Subjektivitäten. Jedes Kapitel wird durch den Schriftwechsel mit ihrer Tochter, ihrer Schwester und ihrer Mutter genährt. Lise Haller Baggesen entkoppelt die Beziehung zur Mutterschaft von der reinen Mutter-Kind-Beziehung und lädt diejenigen mit oder ohne Mutterschaftserfahrung ein, die sich auch in anderen Frauenerfahrungen wiedererkennen: Tochter-Mutter-Tochter-Beziehungen und Schwesternbeziehungen. Manche Briefe, insbesondere im Kapitel mit dem Titel „Mother of Reparation“, haben keine konkreten Adressaten, sondern richten sich direkter und umfassender an die Leserinnen und Leser.
Bei der Präsentation von Mothernism in Form einer Multimedia-Installation lädt die Künstlerin eines ihrer Alter Egos oder ihre imaginäre Freundin Queen Leeba dazu ein, die Geschichte zu singen. Mothernism entstand, als die Künstlerin während ihres Studiums zum Master of Arts in Visual and Critical Studies am Art Institute of Chicago feststellte, dass Mutterschaft allgemein aus Praxis, Forschung und Debatten verdrängt wurde, da sie zu einer gesonderten, privaten oder häuslichen Sphäre gehöre, verbannt in die akademische Schwebe: „MOTHERNISM aims to locate the mother-shaped hole in contemporary art discourse“ (MOTHERNISM zielt darauf ab, das mutterförmige Loch im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu lokalisieren). Für die Künstlerin kann die Erfahrung der Mutterschaft auch eine Quelle des Wissens sein, ein situiertes Wissen, das der Spekulation zugänglich ist, um Teil einer symbolischen Ordnung zu sein, die immer noch überwiegend von männlichen Referenten beherrscht wird, was die Begriffe neutral oder akademisch verschleiern konnten. Mothernism, als Geisteshaltung und Art und Weise, in und auf der Welt zu sein, steht allen offen, ohne die Pflicht selbst Mutter zu sein. So wie der Begriff care über das Register der spezifisch weiblichen Eigenschaften und Praktiken und der mit der Pflege verbundenen Berufe hinausgegangen ist, um sich als Philosophie für alle durchzusetzen, kann Mütterlichkeit über das Gebären hinaus auf der Ebene einer Ethik verstanden werden. In „Making Kin, not babies“, (2016, deutsche Übersetzung „Unruhig bleiben“, 2018) schlägt die Philosophin Donna Haraway einen Entwurf für eine erweiterte Elternschaft vor, die auf einem beschädigten Planeten, auf dem die Beziehungen zwischen den Lebewesen beeinträchtigt sind, dringend erforderlich ist. Von Haraway neu definiert: „Elternschaft führt zu gegenseitigen, verbindlichen, nicht fakultativen Beziehungen, die man nicht beim ersten Hindernis loswerden kann, Beziehungen, die dauerhaft sind und Konsequenzen nach sich ziehen“. Eine Elternschaft ohne Abstammung, aber offen und auf der Grundlage von Affinitäten, vermag zu einer wachen, konzertierten und aufmerksamen Beziehung zur Welt und zu den Menschen zu führen.
Wir danken Kathy Alliou, Directrice du département des œuvres, Beaux-Arts de Paris, für die kuratorischen Ideen, mit denen sie die Vorbereitung der Ausstellung Mutter! bereichert hat.
*Der Titel dieses Textes ist der Titel von Luce Giards Einleitung zu dem Essay von Michel de Certeau „La Prise de parole“, (1994)