Mindbombs: ein Gespräch über die Anschläge vom 11. September 2001

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09.11.21
Sebastian Baden

Mindbombs: ein Gespräch über die Anschläge vom 11. September 2001

Dr. Stephan Weichert im Gespräch mit Dr. Sebastian Baden, Kurator der Ausstellung „Mindbombs“

Sebastian Baden: 9/11 ist zu einer historischen Chiffre für den 11. September 2001 geworden. Wie halten Sie persönlich die Anschläge in Ihrer Erinnerung?
Stephan Weichert: Einige Fachkolleg:innen, aber auch meine Familie und Freunde erinnern mich um den 11. September herum jedes Jahr daran, weil sie wissen, dass ich zur Medienberichterstattung über 9/11 lange geforscht und promoviert habe und mich bis heute mit Krisen und öffentlicher Krisenkommunikation sowohl wissenschaftlich als inzwischen auch vorrangig in meiner praktischen Arbeit beschäftige. Und wie jedes Jahr schaue ich mir Sondersendungen und Dokumentationen an, lese Essays und Reportagen über die Folgen des 11. Septembers und recherchiere, was sich in der Medienwissenschaft in der Zwischenzeit zu diesem spannenden Themenkomplex getan hat. Häufig werde ich auch für Interviews und Diskussionen angefragt. Zu meinen persönlichen Ritualen gehört es, dass ich mich auch mit den künstlerischen Aufarbeitungen befasse. Inzwischen habe ich Kinder, die beide so alt sind, dass ich mir ihnen darüber spreche.

Sie haben in ihrer Forschung eine Analyse der Anschläge und deren medialer Verbreitung vorgenommen. Woran liegt es, dass ausgerechnet die visuellen Eindrücke so nachhaltig sind und insbesondere der Angriff auf das World Trade Center als „ikonisch“ bewertet wird?
Viele Kolleg:innen sprachen damals nicht umsonst von der "Ikonographie des Terrors": Die visuelle Wahrnehmung dieses Ereignisses war im vorhinein nahezu perfekt vorbereitet und gewissermaßen für die Medienwelt choreografiert worden. Schon alleine die in das World Trade Center steuernden und explodierenden Flugzeuge haben Bilder hervorgerufen, die zunächst wie aus einem Action-Film anmuten. Niemand konnte damals beim ersten Anblick glauben, dass diese Bilder authentisch sind. Erst nach den mehrmaligen Wiederholungen im Fernsehen, von denen es viele Endlosschleifen gab, hat das menschliche Gehirn realisiert, dass die Bilder echt sind. Und in diesem Moment waren sie für viele Menschen umso eindrucksvoller.  Die Bilder sind bis heute für alle, die sie damals live oder quasi-live gesehen haben, unvergesslich, weil sie in ihrer Darstellung eine Tragweite hatten, die für viele unbegreiflich war: zum einen im Hinblick auf die Grausamkeit der Tat selbst, aber zum anderen wegen der politischen Folgen, die diese Anschläge haben könnten und dann ja de facto hatten. Zum ikonischen Charakter der Bilder trägt ebenfalls bei, dass die Türme kurze Zeit später vollständig in sich zusammenstürzten und die gigantische Staubwolke eine Stadt mit tausenden Menschen in Manhattan unter sich begrub. Das hat bei den Zuschauer:innen eine Gänsehaut hervorgerufen und eine Hilflosigkeit, die in der westlichen Welt in dieser Generation zuvor bisher nicht bekannt war.

Was bedeutet es historisch und kulturwissenschaftlich, dass der Begriff „Terrorismus“ mit den Anschlägen am 11.9.2001 verbunden wird?
Für die Karriere des Terrorbegriffs war das so etwas wie eine Zeitenwende. "Terror" bezeichnet ja - vereinfacht gesagt - "die systematische Verbreitung von Furcht und Schrecken in der Bevölkerung, um bestimmte Ziele durchzusetzen". Eine derartige Instrumentalisierung der journalistischen Medien wie am 11.09.2001 war bis dato so noch nicht praktiziert worden - auch wenn es gerade in Deutschland durch den Terror der RAF der 1970er Jahre einige Erfahrungen mit der medialen Darstellung terroristischer Akte gegeben hatte. Als ein prominentes Beispiel für eine besonders perfide Propaganda der Tat durch die RAF kann die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer gelten, dessen kaltblütige Ermordung quasi via "Tagesschau" angekündigt worden ist. Am 11. September 2001 zeigten sich nun zwei weitere Dimensionen des "neuen Terrorismus": Die koordinierte Entführung von Passagierflugzeugen, die als Waffen missbraucht und bewusst in mehrere zivile Gebäude gesteuert wurden. Und die Live-Übertragungsmöglichkeit, die in der Medienmetropole New York per se gegeben war.

Wie hat sich die Mediatisierung politischer Gewalt seit 9/11 bis heute geändert?
Sie ist professioneller, subtiler und fragmentarisierter. Professioneller, weil die meisten Terrorvereinigungen inzwischen viel koordinierter vorgehen und sich geschult durch die Beschäftigung spezieller Fachleute der Medien bemächtigen und diese handwerklich virtuos bedienen können. Das lässt sich zum Beispiel an den Hinrichtungsvideos erkennen, die mehrmals "geprobt" werden und am Ende wie ein Werbevideo geschnitten und mit Sound unterlegt werden. Das klingt makaber, ist aber etwa für den IS in den Folgejahren zum Hauptrekrutierungswerkzeug geworden. Sie ist subtiler, indem terroristische Propaganda gezielter hergestellt und mitunter nicht mehr so offensichtlich gestreut wird, zum Beispiel in Kommunikationsforen, die für Laien sehr schwer zugänglich und einsehbar sind. Fragmentarisierter ist sie vor allem in der Wahrnehmung des Publikums: Weil heute immer weniger Menschen lineares Fernsehen schauen, findet Terrorpropaganda vor allem über soziale Medien etwa über YouTube und Facebook statt. Es ist für Terroristen allemal schwieriger geworden, ein Millionenpublikum zu erreichen wie am 11. September 2001, weil auch die Medienschaffenden selbst vorsichtig geworden sind und aus den Instrumentalisierungsversuchen gelernt haben. Einige Sender haben sich Statute gegeben, in denen sie sich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Terrorinhalten verpflichten. Insgesamt ist Terrorismus aber heute mehr denn je ein medial vermitteltes Ereignis, das in seiner digitalen Kommunikation auf öffentliche Effekte statt auf Nahkampf setzt. Die Mediatisierung politischer Gewalt bleibt damit eine der ambivalenten Herausforderungen unserer Zeit.

Gibt es nach 20 Jahren eine veränderte ethische und medienwissenschaftliche Perspektive auf 9/11?
Auch in der ethischen und medienwissenschaftlichen Perspektivierung nehme ich 20 Jahre nach 9/11 eine Ambivalenz wahr. Das betrifft zum einen die wachsende Verunsicherung bei der ethischen Bewertung der Medienberichterstattung in Bezug auf Krisen- und Terrorereignisse im Allgemeinen: Es gibt schlicht kein Patentrezept, wie Medien ethisch korrekt über Krisen und Terror berichten können und sollten, sondern allenfalls handwerkliche Richtlinien, an denen sich Medienschaffende orientieren können. Das macht es für die medienkritische Betrachtung aber schwierig, dahingehend Empfehlungen auszusprechen. Mitunter habe ich den Eindruck, dass die digitale Medienwelt sich immer schneller verändert und damit auch die Möglichkeiten, wie sich die Kommunikation über Terrorismus verbreitet. Der andere Aspekt ist noch wichtiger: Unsere Gesellschaft steckt prinzipiell in einer Phase der medialen Totalüberforderung. Das gilt vor allem in Bezug auf Krisen: Der Eindruck, dass wir nur noch von Krise zu Krise taumeln und die Welt sich zu einem immer schlechteren Ort entwickelt, führt zu einer Desorientierung und etwas, das wir "Medien-Depression" nennen können - also eine Aversion gegen Medien, die das schon bestehende Ohnmachtsgefühl in der Bevölkerung letztlich verstärken, dass wir ohnehin nichts ändern können. Es ist daher entscheidend, dass wir gemeinsam eine "Digitale Resilienz" entwickeln, die das Publikum zu mehr Souveränität und Selbstwirksamkeit befähigt.

Dr. phil. Stephan Weichert ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler sowie einer der Gründer des internationalen Think & Do Tanks VOCER und Ko-Direktor des dazugehörigen Instituts für Digitale Resilienz. Seit 20 Jahren ist er im Hochschulmanagement und in der Journalistenausbildung tätig, davon über 12 Jahre als Professor für digitalen Journalismus in Hamburg und Berlin. Weichert war Leiter des Masterstudiengangs „Digital Journalism“ der Universität Hamburg und Gründungsdirektor des Weiterbildungsprogramms „Digital Journalism Fellowship“ sowie Studiengangleiter an der Hochschule Macromedia für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er hat Soziologie, Journalistik und Psychologie studiert und absolvierte mehrere Forschungsaufenthalte u.a. in New York und Kalifornien (USA). Der Publizist und Filmemacher lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Twitter: @stephanweichert

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