Ein Wohnzimmer für die Stadtgesellschaft in der Kunsthalle - Was ist partizipatorische Programmgestaltung?
„I define a participatory cultural institution as a place where visitors can create, share, and connect with each other around content“, so Nina Simon, Kuratorin und Autorin von „The participatory Museum“ (2010) und „The Art of Relevance“ (2016). Laut Simon können Besucher*innen einer partizipativen Kulturinstitution eigene Ideen und Objekte einbringen, darüber diskutieren und sich mit anderen, die die Interessen teilen, vernetzen. Das alles geschieht um die Inhalte herum, für die die Institution steht.
Mit dem internationalen Ausstellungsprojekt „MUTTER!“ (01.10.21-06.02.22) sowie der Ausstellung „URBAN NATURE von Rimini Protokoll (Haug / Huber / Kaegi / Wetzel)“ (15.07.-16.10.22) hat die Kunsthalle Mannheim zwei, jeweils an die Thematik der Ausstellungen angelehnte, partizipatorische Programmformate initiiert: das „Familienzimmer“ sowie das „Stadtzimmer“. Damit bietet sie einen Raum, den Familien, Vereine, Gruppen oder Einzelpersonen für Workshops, Community-Treffen und Gemeinschaftsaktionen kostenfrei nutzen können.
Gemeinsam mit einem Kreis von lokalen, aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen kommenden Botschafter*innen des Projekts „Familienzimmer“ – interkulturelle Communities, soziale Einrichtungen und mit der Thematik „Mutter“ verbundene Akteur*innen der Mannheimer Stadtgesellschaft – gestaltete das Team der Kunsthalle das partizipatorische Programm. In Auseinandersetzung mit dem Thema „Mutterschaft“ in all seiner Vielfalt entstanden unter anderem queere Kinderbuch-Lesungen, Debatten zum Familiennachzug für Geflüchtete oder zur Vereinbarkeit von Mutterschaft und künstlerischer Tätigkeit, Hörstationen, Musik mit internationalen Wiegenliedern oder zur Rolle der Mutter in der brasilianischen Kultur sowie Eltern-Kind-Treffs.
Im „Stadtzimmer“ treffen sich interkulturelle Stadtteilinitiativen, Urbanist*innen, lokale Kreative und soziale Einrichtungen, die in ihren Veranstaltungen Perspektiven auf die Stadt aufzeigen: Wem gehört sie, was kann sie, welche Themen drängen in der Stadtentwicklung Mannheims, welche Bürgerinitiativen gibt es und welche, vielleicht widerstreitenden Interessen haben diese in Bezug auf die ökonomischen und sozialen Themen in der Stadt? Auch hier nehmen die Akteure mit Lesungen, Musikproben, Debatten und Workshops das Atrium der Kunsthalle für sich in Anspruch.
Mit den „Zimmer“-Programmen zielt die Kunsthalle Mannheim auf eine partizipatorische Programmgestaltung, die im Kontext der aktuellen Öffnungsprozesse und der Diversifizierung von Museen, Stadtbibliotheken und Theatern in ihren Bereichen Programm und Publikum zu sehen ist. Denn partizipative Outreach-Projekte gewinnen zunehmend an Relevanz und bieten Museen die Möglichkeit, die Bedarfe verschiedener Communities und ihrer Besucher*innen kennenzulernen und darauf zu reagieren. Mit dem Ziel, ein diverseres, die Gesellschaft widerspiegelndes Publikum zu entwickeln, bewirken partizipative Outreach-Projekte eine Veränderung in der Programmgestaltung und Kommunikation: Outreach bzw. Partizipation bedeutet daher auch ein Involvieren verschiedener Besucher*innengruppen in die Programmgestaltung von Museen. Dabei gibt es verschiedene Vertiefungsebenen von Partizipation im musealen Kontext: eine Ausstellungseinheit, bei der auf Knopfdruck eine Reaktion erzeugt wird, ist ebenso partizipativ wie ein von verschiedenen Anspruchsgruppen in einem gemeinsamen Prozess entwickeltes und gestaltetes Veranstaltungsprogramm.
Das Museum lässt dieses aktive Mitgestalten „von draußen“ zu: Nina Simon unterscheidet verschiedene Intensitäten der Partizipation in vier Stufen: Bei einem “contributory project”, dessen Ablauf allein vom Museum bestimmt wird, kann die Besucher*innenschaft Objekte und Ideen einbringen, bei einem “collaborative project” als aktiver Partner und bei einem “co-creative project” schließlich von vornherein als gleichberechtigter Partner die Ziele des Projektes mitbestimmen und umsetzen. Bei einem “hosted project” stellt das Museum räumliche oder andere Ressourcen für ein extern entwickeltes Projekt zur Verfügung.
Das für das „Familienzimmer“ und „Stadtzimmer“ vertretene Partizipationsverständnis bezieht sich auf (Vermittlungs-)Ansätze, bei denen eine kulturell, sozial wie beruflich möglichst diverse Bandbreite von Menschen in die Programme involviert wird, um einen reziproken Austausch zu ermöglichen, bei dem sich beide Seiten wechselseitig befruchten und bereichern. Dies entspricht nach Nina Simon eher den Ebenen eines „contribury project“ oder „collaborative project“. Ein Kennzeichen von Partizipation ist, dass sich beide „Parteien“ gegenseitig Handlungsspielräume als „Kulturproduzent*innen“ zugestehen, wodurch das Agieren aller Beteiligten wirkliche und dauerhafte Veränderungen der einzelnen „Veranstaltung“ nach sich zieht. Teilnehmende treten als eigenständige Akteur*innen in Erscheinung, denn ernsthafte Partizipation setzt auf Seiten der Kunsthalle ein aufrichtiges Interesse am Gegenüber, Offenheit und „Lernbereitschaft“, die Akzeptanz nicht-wissenschaftlicher Erkenntnisformen (wie z. B. persönliche Erfahrung und Alltagsexpertise) und sie birgt die Chance, Gegenwarts- und Zukunftsbezüge in die Kunsthalle einzubringen und die Institution so für ein möglichst breites Publikum attraktiver werden zu lassen.
Inspirierende Beispiele für diese Form der Programmentwicklung sind auch die öffentlichen Bibliotheken: Die Bibliothek dok 1 im dänischen Aarhus unter Leitung von Marie Oestergaard, die Berliner Amerika-Gedenk-Bibliothek, die Stuttgarter Stadtbibliothek oder der „Freiraum Mim Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe sind motivierende Beispiele einer experimentierfreudigen, lebendigen und kreativen Form der partizipativen Programmstrategie, die ein kontinuierliches Wachstum von Programm und Publikum befördert. Auch die documenta15 gibt mit den Projekten „Fridskul“ und „rurukids“, dem Austausch mit dem Publikum über Workshops, gemeinsames Kochen, Spiele und künstlerische Aktionen mit Erwachsenen und Kindern einen zentralen Stellenwert.