Von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert hat das Porträt eine lange Wandlungsgeschichte durchlaufen. Über viele Jahrhunderte sollte ein Porträt ein möglichst lebendiges Bild der dargestellten Person wiedergeben. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein soll ein Bildnis nicht zeigen, wie etwas ist, sondern wie es sein soll. Als authentisch gilt es dann, wenn seine inhaltliche Botschaft ihre überzeugendste Form gefunden hat. Das Herrscherbildnis hat die längste Tradition: Könige, Klerus und Adel wollen sich verewigen und ihren Herrschaftsanspruch zum Ausdruck bringen. Im 17. Jahrhundert wächst das Selbstbewusstsein einer bildungs- und großbürgerlichen Schicht, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg über das Porträt manifestiert.
Bei zahlreichen Darstellungen von Menschen stellt sich die Frage, ob es sich überhaupt um ein Porträt handelt. Häufig ist keine konkrete Person porträtiert, sondern es handelt sich um eine Studie zu Gesichtsformen, um einen Typus, einen Charakter oder gar eine Idee. In einem Raum der Ausstellung, die sich allein aus Werken aus der Sammlung speist, sind die Besucher*innen aufgefordert, sich der Frage zu stellen, ob hier eine konkrete Person dargestellt ist, oder ob es sich um ein der Phantasie entsprungenes Bildnis einer unbestimmten Person handelt.
Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beginnt für die Gattung ein grundlegender Wandlungsprozess, der sich im 20. Jahrhundert rasch beschleunigt. Das Menschenbild hat sich gewandelt und die Abstraktion bietet neue Möglichkeiten. Das Porträt soll kein Idealporträt einer Person mehr zeigen, sondern vielmehr die echte äußere Erscheinung, das Wesen und den Charakter eines Menschen einfangen. Hier spielt das Selbstporträt als die unabhängigste Form, die allein dem kritischen Blick des Künstlers selbst standhalten muss, eine zentrale Rolle. Für das 20. Jahrhundert werden den Arbeiten auf Papier auch plastische Porträts aus der Sammlung gegenübergestellt.
Kurator: Dr. Thomas Köllhofer
Francesco Clemente: Ohne Titel (Selbstporträt), 1984 (Holzschnitt)