Weblog von Anja Heitzer

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Kunst im Schwebezustand

Kunst im Schwebezustand

23.06.23
Introtext: 

Der Künstler Tomas Kleiner hat für die Ausstellung "1,5 Grad. Verflechtungen von Leben, Kosmos, Technik" ein performatives Atelier eingerichtet, in dem er an drei Terminen artenübergreifende Flugübungen durchführt. Kuratorin Anja Heitzer hat sich intensiver mit seinem Werk beschäftigt. 

 

 

Abb.: Tomas Kleiner, Performatives Atelier, 2023; Installationsansicht Kunsthalle Mannheim; Foto: Elmar Witt

 

„Schweben zeigt sich im Hin und Her zwischen Welt und Ich, die doch beide nicht mehr verlässliche Orientierung bieten. Dieser Zustand des Schwebens ist ein allgemeines Zeichen der Zeit." (1)

So schrieb der Philosoph Walter Schulz 1985 über den Zustand der Schwebe. Er beschreibt damit die Stellung des Menschen in der Welt, die geprägt ist von Unsicherheit und Rastlosigkeit. Diese Bestandsaufnahme scheint heute – 40 Jahre nach Veröffentlichung des Textes – noch genauso zutreffend wie damals. Neben politischen Unruhen stellt vor allem die Klimakrise eine nur schwer fassbare Herausforderung für die globale Gemeinschaft dar. Diese Mammutaufgabe kann schnell zu Resignation und Fatalismus führen. Wie die Ausstellung „1,5 Grad. Verflechtungen von Leben, Kosmos, Technik“ zeigt, entscheiden sich viele Künstler*innen aber dafür, zu handeln und sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen.


Schweben als Werkzeug der Kunst

Tomas Kleiner ist einer von ihnen und versucht dabei den oft negativ konnotierten Zustand der Schwebe für unsere Gegenwart wieder fruchtbar zu machen. Er macht das Schweben zum Werkzeug seiner Kunst und reagiert damit auf reale, ökologische Gefahren. Die zunehmende Mobilität des Menschen beschneidet den Lebensraum von Tieren und Pflanzen, die im Gegensatz zu uns eng mit ihrem Ökosystem verwurzelt sind. Um sie aus dieser Ohnmacht zu befreien, entwickelt Kleiner verschiedene – mehr oder weniger utopische – Strategien. Mit Hilfe von Heliumballons oder selbstgenähten Fallschirmen führt er artenübergreifende Flugübungen durch und entwickelt so neue Möglichkeiten der Fortbewegung für verschiedenste Lebensformen.


Flugobjekte mit Eigenleben

Die aus biologisch abbaubarer Maisstärke gefertigten Heliumballons verändern je nach Form und Größe der Ballons, Dosierung des Heliums oder Gewicht des befestigten Transportobjekts (z.B. Süßkartoffel oder Wasserlilie) ihr Flugverhalten. Vom Luftzug angetrieben gewinnen sie – im Rudel oder als Einzelgänger – ein Eigenleben. Sie bewegen sich mal schwerfällig und zögerlich, mal übermütig und abenteuerlustig durchs Museum. Neben der Beschäftigung mit den sogenannten Aeronauten arbeitet Kleiner aktuell an der Erprobung von Fallschirmen als Fortbewegungsmittel für Pflanzen. Die Flugobjekte erinnern an Quallen, die sich an langen Leinen befestigt aufblähen, hoch in die Lüfte steigen, um dann wieder in sich zusammenzusinken. Sie bauschen sich auf und scheinen den Wind zu atmen. Sie machen die Kraft der Luftströme sichtbar und wirken gleichsam federleicht und schwerelos. Wenn Kleiner seine monumentalen Medusen steigen lässt, verwandelt sich die Luft in Wasser und die Ökosysteme tauschen für kurze Zeit ihren Platz. Ihre Bewegungen sind ruhelos und doch beruhigend. Der Zustand der Schwebe erhält eine fast schon meditative Komponente, die das „Hin und Her zwischen Welt und Ich“ nicht fürchtet, sondern feiert. Dieser Modus verbindet ein Moment des Aufbruchs mit einem Moment des Innehaltens und der Reflexion.


Performatives Atelier in der Ausstellung

Dabei lädt Kleiner uns ein, den Zustand der Schwebe gemeinsam mit ihm zu erproben. Sein experimenteller Ansatz ist immer auch Ausgangspunkt für Dialog und Austausch. Im Rahmen der Ausstellung „1,5 Grad“ in der Kunsthalle Mannheim hat Tomas Kleiner sich ein performatives Atelier eingerichtet, in dem er über die Laufzeit der Ausstellung hinweg immer wieder arbeiten wird. Er wird dabei vor Ort – in den Ausstellungsräumen oder im Atrium der Kunsthalle – seine Flugübungen durchführen und seine Ausstellungspräsentation immer weiter verändern. Die Besucher*innen können Teil seiner Forschung werden. Sie sind eingeladen, über den Einfluss des Menschen auf seine Umwelt nachzudenken und sich von Kleiners utopischen Experimenten beflügeln zu lassen.

Tomas Kleiner wird an folgenden Tagen in seinem Atelier in der Kunsthalle arbeiten:

Residency 1: 2. bis 7. Mai

Residency 2: 27. Juni bis 2. Juli

Residency 3: 5. bis 10. September

 

Fußnote


(1) Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, Pfullingen 1985, S. 13.

 
DE
Blog Untertitel: 

Kuratorin Anja Heitzer zum Werk von Tomas Kleiner

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URBAN NATURE von Rimini Protokoll: Theateraufführung oder Museumsausstellung?

URBAN NATURE von Rimini Protokoll: Theateraufführung oder Museumsausstellung?

10.10.22
Introtext: 

Sowohl Museen als auch Theater sind Orte der Sichtbarmachung. Das Museum stellt als White Cube, als weißer, unangetasteter Raum, Kunst aus. Das Theater dient als Black Box, als schwarzer Container, der mit Geschichten gefüllt werden kann. Beide Institutionen haben eine besondere Wirkmacht. Alles, was auf der Bühne passiert, ist Theater. Alles, was im Museum passiert, ist Kunst. Das Autoren-Regie-Team Rimini Protokoll rüttelt mit seiner Inszenierung URBAN NATURE an der Deutungshoheit beider Räume.

Viele Elemente, die zu einer klassischen Theateraufführung gehören, sucht man in URBAN NATURE vergeblich: Es gibt weder Bühne noch Publikumsraum, weder Schauspieler*innen noch klassisches Drehbuch. Und auch die Erwartungen, die man sonst an den Museumsbesuch stellen würde, bleiben unerfüllt: Es gibt keine Gemälde oder Skulpturen, keine Podeste, Vitrinen oder erklärende Wandtexte. Die Inszenierungen von Rimini Protokoll lassen sich den beiden Institutionen so schwer zuordnen, dass sie ihre Stücke oftmals auf die Straße und in den Stadtraum hinein verlagern. Viele ihrer Projekte finden an öffentlichen Orten, auf Baustellen oder Fußgängerzonen statt und verbinden sich so mit unserer eigenen Lebenswirklichkeit.

Rimini Protokoll rütteln aber nicht nur an der Grenze zwischen Bühne und gelebter Realität, auch die Trennung zwischen Bühne und Publikum wird immer stärker aufgeweicht. In den sogenannten Video-Walks wird das Geschehen erst durch die Besucher*innen selbst realisiert. Die Unterscheidung zwischen Produktion und Rezeption wird aufgehoben. Die Teilnehmenden werden selbst zu Protagonisten, die das Bühnenbild bespielen und so zum Leben erwecken.

Der offene Raum des Museums ermöglicht ein weit angelegtes Set, in dem die Besucher*innen sich selbständig bewegen können. Gleichzeitig wird die klassische Vorstellung des lustvoll wandelnden Museumspublikums durch die besondere Funktionsweise der Inszenierung unterwandert. In der feingliedrig aufeinander abgestimmten Maschinerie spielt der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Alle 8 Minuten betritt eine neue Gruppe von Menschen das Set. Jede Handbewegung, jeder Schritt, jedes gesprochene Wort wird in ein genau getaktetes System eingeflochten. Damit verschränkt URBAN NATURE die Rezeptionshaltungen von Museum und Theater miteinander. Statt sich wie bei einem Ausstellungsbesuch frei durch den Museumsraum zu bewegen, werden die Teilnehmenden durch ein sorgfältig angelegtes System aus Regieanweisungen und szenografischen Setzungen durch das vielgestaltige Bühnenbild geleitet.

Rimini Protokoll arbeiten sich mit ihren Inszenierungen an den Bedingungen der beiden Institutionen ab und hinterfragen das Wertesystem, in das White Cube und Black Box eingebettet sind. Beide Begriffe sind mit Vorstellungen von Hierarchie und Distanz verbunden – eine Distanz zum Geschehen auf der Bühne und eine Distanz zu den sakralisierten Kunstwerken, die auf besondere Art und Weise präsentiert werden. Die Black Box des Theaters lässt das Publikum im Schwarz der Zuschauerränge verschwinden. Sie lässt uns die Anwesenheit der anderen Besucher*innen ebenso vergessen wie unsere eigene. Ganz anders in den Projekten von Rimini Protokoll: Sie fordern die Betrachter*innen heraus. Es gibt kein Narrativ mehr, das sich vor den Augen des Publikums entfaltet. Das Publikum selbst übernimmt die Verwirklichung des Geschehens – und beeinflusst dabei selbst, auf welche Art und Weise die Geschichten erzählt werden.

Noch bis 16. Oktober können Besucher*innen Teil der Inszenierung URBAN NATURE werden und die Meta-Stadt der Zukunft aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Weitere Informationen zum Besuch gibt es hier.

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My Mommy Is Beautiful – Meine Mutter ist wunderschön!

My Mommy Is Beautiful – Meine Mutter ist wunderschön!

21.01.22
Introtext: 

Worte der Liebe und der Dankbarkeit, der Ablehnung und der Reue – seit Beginn der Ausstellung „MUTTER!“ füllt sich das Atrium der Kunsthalle mit einer nicht enden wollenden Zettelflut. Die Installation „My Mommy Is Beautiful“ der Künstlerin Yoko Ono lädt die Besucher*innen dazu ein, ihren Müttern eine Botschaft zu hinterlassen.

Das 2004 initiierte Kunstprojekt war ursprünglich als Hilfsaktion für japanische Erdbebenopfer gedacht und wurde seither in verschiedenen Museen weltweit realisiert. Yoko Onos künstlerische Praxis basiert oftmals auf poetischen, humorvollen oder provokativen Anweisungen, die das Publikum zum Nachdenken und Handeln anregen sollen. Ihre konzeptuellen Performances und textbasierten Arbeiten untersuchen die Beziehung zwischen der Kunst und den Betrachter*innen. Bereits in den 1960er-Jahren trug die Musikerin, Künstlerin und Aktivistin mit ihren Werken maßgeblich zur Entwicklung der Fluxus-Bewegung und der Konzeptkunst bei.

In der Kunsthalle begann ihre Arbeit „My Mommy Is Beautiful“ mit einer Reihe leerer, weißer Leinwände und der Aufforderung an die Besucher*innen, diese mit Nachrichten an ihre Mutter zu füllen. Mittlerweile verbergen mehrere tausend Zettel die Leinwände unter sich und breiten sich immer weiter im Atrium aus. Von weitem ist nicht viel mehr als ein weiß rauschendes Blättermeer erkennbar. Doch beim genaueren Hinsehen verraten die Papierstücke ihre intimen, berührenden, lustigen oder vorwurfsvollen Botschaften.

Jede Nachricht erzählt ihre eigene Geschichte und hat ihre eigene Ästhetik. Krakelige Kinderzeichnungen hängen neben mit Herzchen gespickten Liebesbekundungen und langen, in feinster Schreibschrift verfassten Briefen. Dieses Stimmengewirr erzählt in den unterschiedlichsten Sprachen und Schriftzeichen von Verzweiflung, Bedauern und immer wieder von der Reue, nicht alles gesagt zu haben. Winzige Anekdoten geben dabei Einblick in ein ganzes Leben und erzählen von alltäglichen und zugleich tiefgreifenden Erlebnissen. Man erfährt von starken Müttern, die für ihre biologischen oder selbst gewählten Kinder Fürsorge tragen, von Familienmitgliedern, die um den Verlust von Verwandten trauern oder von enttäuschten Kindern, die sich mehr Nähe gewünscht hätten.
Die Installation mit ihren sich ständig überlagernden Botschaften verbindet die Intimität und Haptik der traditionellen Briefform mit der Schnelllebigkeit und Anonymität der sozialen Netzwerke. Online sind knappe Botschaften schnell verschickt, im realen Raum des Museums, vor dem weißen Blatt Papier, hält man plötzlich inne. Auf vielen Papierstücken stehen Botschaften, die wohl nie laut ausgesprochen worden wären. Sie sind zutiefst persönlich, intim und schonungslos.

Noch bevor man die eigentliche Ausstellung betritt, erlebt man hier das gesamte emotionale Spektrum der Beziehung zwischen Müttern und ihren Kindern: große Freude und Liebe, aber auch Schmerz und Leid, Unverständnis und Scham. Die Komplexität der Beziehung fügt sich Zettel für Zettel zu einem vielschichtigen Puzzle zusammen.

Noch bis 6. Februar können Besucher*innen Yoko Onos Einladung folgen und der stetig wachsenden Installation selbst ein Puzzlestück hinzufügen.

 

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Mythos Madonna – ein Idealbild neu betrachtet

Mythos Madonna – ein Idealbild neu betrachtet

08.10.21
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Die Vorstellung der liebevollen und fürsorglichen Mutter ist in unserer Gesellschaft tief verankert. Sie geht zurück auf das Idealbild der makellosen Madonna des Christentums, das noch heute unseren Blick auf Familienkonstellationen und Geschlechterverhältnisse prägt.

Das traditionelle Urbild der Maria mit Kind dient auch als Einstieg in die Ausstellung „MUTTER!“ Dieric Bouts‘ klassische Madonna mit ihrem blauen Mantel, dem sanften Blick und ihrer reinen Schönheit steht beispielhaft für eine Bildsprache, die in der Kunst- und Kulturgeschichte noch heute nachwirkt. Ihr langes, wallendes Haar ist so detailliert gemalt, dass die einzelnen Haarsträhnen deutlich sichtbar werden. Der helle Goldgrund scheint über den Rahmen des Bildes hinaus zu strahlen und enthebt die Szenerie der weltlichen Sphäre. Dennoch bemüht Bouts sich, die tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind und das zutiefst Menschliche darin sichtbar werden zu lassen. Die Jungfrau Maria blickt liebevoll auf das Jesuskind in ihren Armen, das gedankenversunken mit einer Glasperle am Rosenkranz um seinen Hals spielt.  Das unschuldige Spielen des Kindes verleiht dem Gemälde eine intime und gleichzeitig unmittelbare und lebendige Wirkung.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein lässt sich ein großer Teil der Darstellungen von Mutter und Kind auf die christliche Madonna zurückführen. Besonders beliebt war das Thema auch bei männlichen Künstlern. Die Gegenüberstellung verschiedener Generationen im Bild oder die Darstellung des weiblichen Halbakts stellten interessante Sujets dar, die ihnen die Möglichkeit boten, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Romantisierende Gemälde stillender, in sich gekehrter Frauen oder harmonische Familienszenen skizzieren ein überhöhtes, dem Alltag entrücktes Idealbild. Weibliche Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker oder Jeanne Mammen widmeten sich dem Thema hingegen oftmals aus einer sozialkritischen und persönlichen Perspektive. Sie zeigen schwangere Frauen, trauernde Mütter, monumentale Kinderporträts und aufrüttelnde Darstellungen der ungeschönten Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Auch wenn das Thema der Mutterschaft noch heute zum Teil tabuisiert wird, lässt sich in der Kunst mittlerweile ein recht facettenreiches Bild von Mutterschaft zeichnen. So wird Dieric Bouts‘ Madonna im Rahmen der Ausstellung „MUTTER!“ zu einer Hintergrundfolie, von der sich das Bild der Mutter in viele Richtungen auffächert – von Frauen, deren Kinderwunsch unerfüllt bleibt, über queere Elternschaft bis hin zu ungewollten Schwangerschaften und dysfunktionalen Familienstrukturen. Künstler*innen nehmen Elternschaft heute als zentrales gesellschaftliches Thema wahr, das sich im Leben jedes Einzelnen auf verschiedenste Art und Weise manifestieren kann.

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